Mit der formgebenden Kraft einer forma formans, analog zur immer zeugenden natura naturans, ist die absolute Metapher der Natalität für die Form in ihrem stetigem status nascendi gefunden: «das, was die Zeichnung trägt, was sie hinwegträgt und ihr ihren Schwung verleiht, ihren Linienzug, das ist diese Geburt, ihre Ereignishaftigkeit, Kraft und Form in dem Masse, als sie sich in statu formandi befindet. ‹Zeichnen› bedeutet zumal die Form gebären – sie hervorbringen, indem man sie zur Welt kommen lässt – oder eher, ihre Offensichtlichkeit oder Evidenz sich verschenken lassen [...].» (S. 33)
Alles in Nancys Beschreibungen der Zeichnung drängt so auf die Verbindung der zeichnerischen Form mit der Lust an der linien(er)zeugenden zeichnerischen Geste. Wenn es sich um ein Zeugen und Gebären handelt, dann vornehmlich darin, dass die Linie ein ursprüngliches Begehren erzeugt, das nicht nur die zeichnerische Geste vorantreibt. Dieser Gedanke erfährt eine – vielleicht zu zaghafte – werkästhetische Wendung, die im letzten der sechzehn Textabschnitte entwickelt wird; nämlich dass es die Linie der Zeichnung selbst ist, die sich in der Lust am Formbegehren vorantreibt: «die Linie [...] ist ein Begehren – macht nichts anderes, als einen Fixpunkt der Wahrheit in Bewegung zu versetzen und nach vorn zu ziehen» (S. 124). Von der Linie geht der Eros der Wahrheit aus, die sich in unablässiger Selbstunterscheidung des Identischen in unterschiedene Demarkationslinien der Erfahrung – damit der Künste – ausdifferenziert: «Ob visuell, auditiv, gestisch oder haptisch, die Demarkation der Linie unterscheidet, differenziert und verteilt, ordnet an, indem sie zugleich ins Eigene der Bewegung verschwindet.» (S. 124) Hier, in der sinnlichen Fülle unendlicher Differenzen ist der Ort des ekphanestaton und des erasmiôtaton, des am hellsten Scheinenden und Anziehendsten. «Die Schönheit [...] ist das Strahlen der Wahrheit.» (S. 126)
Neben den zahlreichen Anverwandlungen aus rund 2600 Jahren Begriffsgenesis, besteht Nancys Originalität vornehmlich darin, Lustprinzip und Begehren mit Blick auf ein in der Regel wenig üppiges Sujet, die graue Spur auf weissem Grund, zur Geltung zu bringen. Er kann sich dabei auch auf ein Zeugnis Vasaris stützen, der über Michelangelo berichtet: «Durch sein Genie neigte er zur Lust am Zeichnen und heimlich brachte er damit so viel Zeit zu, wie er nur konnte, weswegen sein Vater und seine älteren Geschwister ihn schalten.» (S. 26). Nancy hätte, dies sei hinzugefügt, auch auf Rousseau zurückgreifen können, der an prominenter Stelle, im Fragment über den Ursprung der Sprachen, ganz im Sinne Nancys Liebe und Linie (bzw. Absicht) identifiziert. [3]