Doch, was ist die Freude oder Lust am Zeichnen und an der Betrachtung von Zeichnungen genauer mehr als Identifikation des Nicht-Identischen? Auch hier scheut Nancy das klassische Begriffsvokabular der Philosophie keineswegs: «Die bewundernde Liebe und die Betrachtung sind Lust, aber eine solche, die sich nicht darin gefällt, ein Objekt zu ergreifen: vielmehr erfreut sie sich daran, ein Subjekt über sich hinaus zu tragen […]. Die Betrachtung verbraucht nicht, was sie betrachtet: sie erneuert daran ihren Hunger und Durst.» (S. 28–29)
Freude oder Lust meint bei Nancy nicht die Erfüllung und damit Auslöschung des Begehrens, sondern der stete Aufschub der Erfüllung einer begehrten Lust. Während in der Erfüllung die Lust erlischt, will das Begehren gerade die Unerfülltheit der Lust und damit die Lust selbst – das heisst diese offenhalten. Hierfür rekrutiert Nancy erneut auf einen klassischen, diesmal kantischen Topos: Die Betrachtung der schönen Dinge ist ganz ohne jenes Interesse, das sich aus vitalen Bedürfnissen speisen würde, die das verspeisen, wonach sie verlangen. Nancy kann sich hier auf Kants Bestimmung des Schönen als Zweckmässigkeit ohne Zweck stützen, was er in sein Idiom als «Finalität ohne Ende (‹Finalité sans fin›)» (S. 111–118) übersetzt. Der Betrachtung einziges Interesse ist es, das Interesse nicht zu verlieren: «das Begehren verlangt sich selbst» (S. 36). Das Interesse des Betrachtens besteht also darin, das Begehren über sich selbst hinauszutragen, dorthin, wo es unerfüllt bleiben kann – hin zum «Schönen, das die Absicht des Wahren ist (‹le dessein du vrai›)» (S. 126).