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Dieses Interesse am Schönen und Wahren betrifft den Rezipienten wie den Künstler gleichermassen: die forma formans, die in der zeichnerischen Geste geboren wird und in der späteren Betrachtung weiterlebt, ist gemäss Nancy eine Bewegung des Subjekts «von sich zu sich selbst» (S. 37), ein Selbst freilich, das sich selbst transzendiert und so, mit Nietzsches Diktum, wird, was es eigentlich «ist», d.h. es selbst wird, indem es über sich hinausgeht. Diesen Aussenbezug fasst Nancy als eine Lust an der Beziehung oder Bezüglichkeit überhaupt (S. 84-90), für Nancy der Beziehung des Seins zum Sein.

Bis auf die letzte ontologische Wendung verbinden diese Reflexionen auf meist gut nachvollziehbare Weise die Offenheit der Zeichnung mit der Unabschliessbarkeit der Lust. Gleichwohl muss auf eine Gefahr hingewiesen werden, die Nancy selbst benennt, ohne unsere Bedenken selbst ganz entkräften zu können – Bedenken, die eine Ästhetik der Gestik in Verkopplung mit dem Lustprinzip, zumal Freudscher Prägung, die Nancy ausführlicher entwickelt, hervorruft. Denn wenn es stimmt, dass «Lust nichts anderes als Selbstaffektion» (S. 39) und wenn die «Zeichnung […] vor allen Dingen und am eigentlichsten eine Geste ist» (S. 50), über deren Lust- und Begehrenscharakter Nancy keinen Zweifel lässt, dann stellt sich unausweichlich die Frage nach der «irreduziblen Differenz des Werkes» (S. 66) zu dieser Entstehung. Prozesse sind keine Werke. Zudem werden Werke nicht gezeugt, wie Menschen oder andere Tiere: die zeichnerische Geste zeugt anders als der sexuelle Akt. So genau Nancy diese Differenz benennt, so unscharf bleibt diese in der Ausführung.

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