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Alexander Perrig im Gespräch mit Hana Gründler und Toni Hildebrandt, Frankfurt am Main, 9. Februar 2012

HG/TH: Herr Perrig, über vier Jahrzehnte sind seit der Vollendung Ihrer mehrteiligen Michelangelo-Studien vergangen. Diese haben einen wichtigen Beitrag zur Methodologie der Zeichnungswissenschaft geleistet. Gerade in den letzten zehn Jahren hat man das Gefühl, dass die (Hand)Zeichnung, oder sollte man vielleicht besser sagen, das Zeichnerische, eine grosse Relevanz nicht nur in der Kunstwissenschaft, sondern auch in der Wissenschaftsgeschichte und der Philosophie – zumindest als Denkfigur – spielt. Was glauben Sie, wie sich die Zeichnungswissenschaft entwickelt hat? Und wie würden Sie die Rezeption Ihres methodologischen Versuches einschätzen?

AP: Die Reaktion auf meinen methodologischen Versuch war und ist gespalten. Positiv aufgenommen wurde er bis dato hauptsächlich von Künstler/inne/n und von Leuten, die sich wissenschaftlich mit der Kunst des 20. Jahrhunderts befassen. Diese haben ja logischerweise ein besseres Sensorium für die Zeichnung als individuelles Artikulationsmedium als die auf die Kunst der Frühen Neuzeit Spezialisierten. Logischerweise insofern, als im 20. Jahrhundert praktisch jedes Künstlerindividuum schon in der Lehrzeit ungehemmt seinen eigenen Artikulationsmodus entwickeln konnte, weil es kaum noch so etwas wie einen standardisierten Zeichenunterricht gab.

Lehrlinge des 16. Jahrhunderts wurden nach wie vor nach Standardmethoden unterrichtet. Wurden sie selbständig, waren ihre Zeichenstile nicht weniger gleichartig als die von der gleichzeitigen Schulschrift geprägten Schreibstile. Selbst wer das Zeichnen wie Leonardo und Michelangelo autodidaktisch erlernte, konnte sich dem herrschenden Musterstil nicht wirklich entziehen. Die Autorschaft einer Renaissancezeichnung ist daher wesentlich schwieriger zu ermitteln als diejenige einer Zeichnung des 20. Jahrhunderts, erfordert es doch das Erkennen der in einem Kollektivstil eingebetteten Individualstilkomponenten.

Nun gibt es allerdings die uralte, bis in die Gegenwart praktizierte Methode der Autorschaftsbestimmung nach sogenannten Kennerschaftskriterien. Da sie immer schon zu mehrheitlich guten Resultaten geführt haben soll, sahen und sehen die meisten Spezialisten für zeichnerische Altmeisterprodukte keinen Grund, die bewährte gängige durch eine ganz andere, viel kompliziertere Methode zu ersetzen. Mein 1976 publizierter Versuch [1] wurde daher vom Gros dieser Spezialisten fünfzehn Jahre lang ignoriert und dann, als er in abgekürzter Form auf Englisch erschien, als Provokation und überflüssiges Gerede eines arroganten Besserwisserleins empfunden.

Ausgabe 03 | Seite 35  >>