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Aus diesem Grund habe ich – um auf Ihre erste Frage zu antworten – heute den Eindruck, dass die meisten Altmeisterzeichnungsspezialisten gar nicht gewillt sind, ihr Métier zu einer transparenten Zeichnungswissenschaft zu entwickeln.

HG/TH: In ihrem Buch haben Sie sich intensiv mit der Relation von Sprache und Kennerschaft auseinandergesetzt. In letzterer geht es ja auch um Zuweisung von Nomenklaturen und um das Herausarbeiten einer überzeugenden Sprache für sprachlich nur schwer greifbare visuelle Phänomene. Gerade, aber nicht nur, in der Michelangelo-Forschung sind nationale Traditionen und mit ihnen gewachsene Wissenschafts-Landschaften dabei sehr wichtig und einflussreich, wobei eben häufig auch verschiedene methodologische Herangehensweisen beobachtet werden können?

AP: Als «Zeichnungskenner» werden diejenigen Individuen bezeichnet, die ein mit einer unbestimmbaren Zahl verschiedenartiger Zeichnungseindrücke bestücktes musée imaginaire im Gedächtnis haben, das ihnen ggf. erlaubt, eine noch unklassifizierte Zeichnung aus dem Stand heraus zu klassifizieren. Die Klassifikation – Beispiel: «diese Zeichnung stammt vom jungen Perugino» – ist an sich wertlos. Ob und inwieweit sie wissenschaftliche Relevanz bekommt, hängt davon ab, wie der Kenner sie begründet. Dem Kenner mag Begründung genug darin bestehen, dass ihm andere Kenner mit anderen musées imaginaires im Kopf von Herzen oder aus Ehrfurcht zustimmen und dass die Zeichnung fortan unter «Perugino» läuft. Wissenschaftlich betrachtet ist das Sprechblasenpraxis.

Vor dem 20. Jahrhundert konnte man sich mit dieser Art von Begründung begnügen, weil Zeichnungen eh nur Liebhaberkreise interessierten. Heute aber signalisiert der blosse Verweis auf einen Chor gleichgestimmter Kenner, wenn nicht unbewusste Furcht vor eventuell falscher Etikettierung, dann die Unfähigkeit, mit so komplizierten, unendlich variablen Gebilden, wie es Zeichnungen sind, sprachlich zurechtzukommen. Im deutschen Sprachraum hatte man – wie der erhellende Aufsatz Bernhard Degenharts von 1937 [2] beweist – schon früh die Möglichkeit, an die differenzierte Nomenklatur der Graphologie anzuknüpfen und daraus eine eigene, auf Strichbilder abgestimmte Terminologie zu entwickeln. Doch ausser Degenhart, der seinen eigenen Ansatz nie weiterverfolgte, machte kaum jemand von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Die Art, wie Kennerurteile begründet werden, ist daher heute fast überall dieselbe. Man beschreibt Altmeisterzeichnungen, als seien sie eine Abart von Gemälden. Man meint den Stil einer Zeichnung zu treffen, indem man Begriffe, d.h. blosse Gedankendinge («Faktur», «Strichführung», «Lineament» etc.) charakterisiert.

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