>>
 

Und wenn es – wie beispielsweise im Katalog zur Wiener Michelangelo-Ausstellung von 2010 – gilt, Körperausschnittstudien, die sich auf Figuren der Sixtinadecke beziehen, ungeachtet ihrer proportionalen und körpertopographischen Defekte als «Vorstudien» des grossen Meisters plausibel zu machen, hat man keine Bedenken, ihr Nicht-Kopiertsein mit dem Hinweis darauf zu begründen, dass sie vom Freskosachverhalt «geringfügig abweichen». So als seien Cinquecentokopisten lebende Fotoapparate gewesen, die dank ihrer Zoom-Augen selbst dann eine Figur in identischer Form wiederzugeben verstanden, wenn die Figur sich zwanzig Meter über ihren Köpfen befand.

HG/TH: Der erste Band «Michelangelo und die Zeichnungswissenschaft. Ein methodologischer Versuch» zählt auch heute noch zu den herausragenden Versuchen, eine Strichbildanalyse zu entwickeln, die in gewissem Sinne an Degenharts von Ihnen ja bereits erwähnte «Graphologie der Handzeichnung» anschliesst.  Im ersten Kapitel mit dem programmatischen Titel «Zur Problematik der sogenannten Kennerschaft» fällt auf, dass Sie trotz der ernsthaften methodischen Innovationen einen durchaus ironischen Zugang zu diesem Bereich hatten? Wie stehen Sie heute dazu?

AP: Da mir immer nur kurzzeitig ein «täglicher Umgang mit Originalen» – nach heutiger Meinung die Grundvoraussetzung von Kennerschaft – vergönnt war, habe ich mich auch nie zu den Kennern gezählt, umso mehr aber diejenigen bewundert, die angesichts von zwei Dutzend Blättern auf Anhieb sagen konnten, von wem diese sicher, wahrscheinlich, möglicherweise oder keinesfalls bezeichnet worden seien. Trotzdem blieb mir diese Kennerschaft suspekt, weil sich die Begründungen ihrer Urteile fast ausschließlich auf der Ebene des Abstrakten, nicht Kontrollierbaren bewegten.

Das Meiste von den Spezifika einer Zeichnung wird ja in der Regel ausgeblendet – beispielsweise der ersichtliche Zusammenhang zwischen der Bewegungsmotorik einer zeichnenden Hand und dem Strichbild des von ihr Gezeichneten. Andernfalls dürfte es nicht vorkommen, dass zum Beispiel ein Schraffenverband, dessen leicht gekrümmte Parallelschraffen durch simple Handgelenksbewegungen entstanden, als Indikator von Michelangelos Können angepriesen wird; denn jeder einigermaßen geübte Zeichner kann solche dynamisch wirkenden Schraffenverbände hinzaubern. Ausgeblendet wird u.a. auch, dass Zeichnen ein rhythmischer Bewegungsvorgang ist und dass die Art des individuellen Rhythmus sich zumindest im Bereich der Entwürfe sehr wohl erkennen und beschreiben lässt. Und ausgeblendet wird, dass jeder Entwurf etwas über die Schärfe oder Unschärfe des individuellen Formengedächtnisses aussagt und dass jeder professionelle Künstler nach der Lehrzeit seine eigenen Entwurfsgrössen-Standards entwickelt und zur Ökonomisierung seiner Zeichenweise tendiert, usw.

<<  Ausgabe 03 | Seite 37  >>