HG/TH: Lassen Sie uns vielleicht noch einmal zur Frage der Sprache zurückkehren. Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, dass Ihre Studien für die Zeichnungswissenschaft des 20. Jahrhunderts wirklich zentral gewesen sind. So war zum Beispiel Franz-Joachim Verspohl – auch in Anlehnung an Ihre Methode – in seinen Wols-Studien um das Erschaffen einer spezifischen Begrifflichkeit bemüht, die den neuen zeichnerischen Phänomenen und Techniken gerecht werden konnte. Wie hatten Sie diese Versuche der Übertragung in eine andere Zeit und einen anderen kunsthistorischen Kontext aufgenommen? Und wie erklären Sie sich, dass Ihre Methodik gerade von der Renaissance-Forschung, für die Sie ja schliesslich primär konzipiert wurde, noch immer nicht angenommen wurde? Das eine ist ja eine Frage der Methodik, das andere der Zuschreibung. Man denke etwa an Leo Steinberg, der in Bezug auf Sie geschrieben hat: «The day will come when a new generation of scholars reviews Perrig's critique of the Michelangelo corpus without vertigo, without parti pris. In real time that day may be distant, but some who live even now in its immanence salute Perrig as its leading champion».
AP: Das Erschaffen einer spezifischen Begrifflichkeit ist wohl das wichtigste aller Desiderate. Im Grunde müsste man gerade auf so eklatant divergierende zeichnerische Artikulationsweisen wie die des 20. Jahrhunderts mit ebenso divergenten sprachlichen Echos reagieren. Dafür ist der Wortschatz der Sprachen natürlich zu arm. Umso wichtiger aber ist die Einsicht, dass es keine noch so guten Methoden des Begreifens zeichnerischer Phänomene gibt, die nicht der Differenzierung bedürfen.
Dass mein methodischer Neuansatz, der auf die begriffliche Erfassung des Individualstils abzielt, gerade bei der Renaissance-Forschung auf Ablehnung stösst, ist übrigens durchaus verständlich. Wäre er mit Zeichnungen der zweiten oder dritten Künstlergarnitur exemplifiziert, hätte wohl kein Hahn darüber gekrächzt. Dadurch aber, dass er es anhand einer so brisanten Materie wie der unter dem Namen Michelangelo laufenden Zeichnungsmasse wurde, war die Abwehrhaltung vorprogrammiert. Denn Michelangelo ist nun einmal kein gewöhnlicher Künstler, sondern eine Kultfigur. Und was ihm an Zeichnungen zugeschrieben wird, ist mit so mächtigen Interessen verknüpft, dass heute kaum noch jemand wagt, das Zugeschriebene auf seinen Nennwert zu hinterfragen.
Was einst Wissenschaft war, ist auf diesem Sektor längst zur Religion verkommen. Obwohl deren Glaubenssätze grösstenteils aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammen und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend widerlegt worden sind, wurden sie seit den 1970er Jahren – vor allem von Seiten englischer Hohepriester – reihum neu dekretiert.