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Ihre Zementierung scheint denn auch der Hauptzweck der auffallend vielen Michelangelo-Ausstellungen der letzten zwölf Jahre gewesen zu sein. Damit muss man sich abfinden. Bedauerlich ist nur, dass die neuen Michelangelo-Apologeten die Möglichkeit, die Ergebnisse meiner zwischen 1960 und 2008 erschienenen Publikationen betreffend Michelangelo und seine Umgebung zu widerlegen, ungenutzt liessen. Sie hätten mir andernfalls viel Seh-, Denk- und Schreibarbeit erspart.

HG/TH: Sie haben in Ihrem methodologischen Versuch dem Tempo und dem Rhythmus ein ganzes Kapitel gewidmet. Dieser Aspekt des Rhythmus und der subtilen Tempoveränderung ist ja letztlich auch mit dem Atmen verbunden; wir denken etwa an die Agogik, oder an Artauds Überzeugung, dass man immer auch mit dem Atmen zeichne.

AP: Die Wichtigkeit von Rhythmus und Tempo ist evident. Da jeder Strich einer Zeichnung der Niederschlag einer von der Hand des Zeichners gesteuerten Feder- oder Stiftbewegungsphase ist, widerspiegelt jede Strichabfolge sowohl beim Konturieren als auch beim Schraffieren einen Bewegungsrhythmus. Die Erscheinungsweise dieses Rhythmus hängt vom zeichnerischen Tempo ab. Jeder Zeichner zeichnet beim Entwerfen schneller, als wenn er ins Reine zeichnet. Der Unterschied drückt sich aus sowohl in der Verschiedenheit der Strichlängen und der Strichform als auch in der Art und Weise, wie sich die Striche innerhalb einer Sequenz zueinander verhalten. Auch innerhalb ein und derselben Zeichnung können Tempo und Rhythmus variieren. Schraffuren werden in aller Regel schneller als Umrisse gezeichnet. Dies alles müsste Konsequenzen schon für die Praxis des Vergleichens haben. Vergleichbar sind von Rechts wegen nur gleichartige Dinge – Entwurfsumrisse bzw. –schraffuren mit Entwurfsumrissen bzw. –schraffuren etc. In der gängigen Praxis aber wird, wenn es gilt, eine Attribution glaubhaft zu machen, nach Willkür verglichen – die «Faktur» einer Reinzeichnung mit der «Faktur» eines Entwurfs, einer Studie oder einer Kopie. Kein Wunder, dass die Vergleichsresultate dann dem jeweils Gewünschten entsprechen.

HG/TH: Da fällt uns Ihre evokative Wendung des «Brachlands des Papiers» ein, die uns auch in Zusammenhang mit dem, was wir die Blättrigkeit der Zeichnung genannt haben, interessiert. Können Sie das noch etwas ausführen?

AP: Eine leere Blattseite ist das Paradigma reiner Fläche. Sie hat für diejenigen, die sie zu bezeichnen oder zu beschriften gedenken, etwas Beängstigendes und erfordert, ehe der erste Strich oder Schriftzug in die Leere gesetzt werden kann, die Überwindung einer Hemmschwelle. Denn mit dem ersten Strich oder Schriftzug beginnt die risikoreiche Festlegung von Etwas, das, solang nur im Geiste existent, gar nicht festlegbar ist, geschweige denn aus von Fläche hinterfangenen Strichen oder Schriftzügen besteht.

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