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Zeichnen und Schreiben sind ja echte Geburtsvorgänge, nur dass die wahrnehmbare Geburt ausserhalb des zerebralen Mutterschosses stattfindet. Bei der Geburt einer Zeichnung geschieht mit der leeren Fläche, je nachdem, wie gezeichnet wird, eine Verwandlung. Wird mit konstantem Bewegungsdruck ein Figurenumriss darauf gezeichnet, «spendet» die Fläche ein Stück ihrer selbst dem Umrissenen und verwandelt dieses in abstrakte Körperoberfläche. Wird der Bewegungsdruck hingegen – wie u.a. bei Michelangelo – so variiert, dass die Striche an- und abzuschwellen scheinen und die Druckunterschiede aus ganzen Strichsequenzen virtuelle Licht- und Schattenzonen machen, dann verwandelt sich die Papierfläche in einen vom virtuellen Volumen der umrissenen Figur beanspruchten virtuellen Raum.

Werden auf ein und dieselbe Papierfläche mehrere solche druckvariablen Figurenumrisse gezeichnet, dann erweitert sich die Tiefe dieses virtuellen Raums, wenn die Figurengrössen auch nur geringfügig variieren. Die kleinsten Figuren wirken dann als die hintergründigsten. Ein Ensemble von druckkonstant konturierten Figuren ändert dagegen nichts an der sie umgebenden Fläche, gleichgültig, wie gross die figürlichen Formatsunterschiede sind. Es ändert sich auch nichts, wenn eine solche Figur einschraffiert wird. Dann wird aus der abstrakten Körperoberfläche zwar ein Relief. Aber dieses verhält sich zur umgebenden Fläche bloß wie eine Insel zum Wasserspiegel eines windstillen Sees.

HG/TH: Bei und für diese Bewegung spielt natürlich auch die Dimension des Blattes eine wichtige Rolle. In gewissem Sinne scheint eine ‹Phänomenologie des Blattes› noch ein Desiderat der Zeichnungswissenschaft darzustellen.

AP: Sie meinen eine Phänomenologie der Blatt-Besiedlung. Die Blattdimensionen haben ja ausser in seltenen Ausnahmefällen keinen Einfluss auf die Grösse der darauf gekommenen Zeichnung(en). Was die Zeichnungsgrössen bestimmt und zur Wahl von grösser oder kleiner dimensionierten Blättern führen kann, sind die im Kopf des professionellen Künstlerindividuums unwillkürlich entwickelten Standardformate. Sie manifestieren sich am deutlichsten in der Existenz von zwei Extremtypen – Zeichnern, deren Entwürfe ungewöhnlich klein, und solchen, deren Entwürfe ungewöhnlich gross formatiert sind. Man kann den ersteren Typ, zu dem ab ca. 1510 auch Michelangelo gehörte, nicht einfach «Kleinzeichner» nennen. Denn sobald es um die Anfertigung von Studien geht, wird von ihm ein wesentlich grösseres Standardformat aktiviert. Diejenigen, die sich des täglichen Umgangs mit Originalen erfreuen, täten gut daran, ausser die Blattgrößen auch beispielsweise die Längen von eventuell darauf gezeichneten aufrechten Entwurfs- und Studienfiguren zu messen.

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