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«Wenn ich das Fensterkreuz dort drüben ‹ins Auge› fasse und das Glas vor mir auf dem Tisch ‹in die Hand› nehme, ist dann das Fensterkreuz so in meinen Augen wie das Glas in meiner Hand? Gewiss nicht. Aber wo liegt der Unterschied, den wir mühelos feststellen, ohne ihn doch sogleich bestimmen zu können? Die Hand ist doch ein Organ unseres Leibes und das Auge ist es nicht minder. [...]
Das Auge nennt man Sinnesorgan. Und die Hand? Wir werden sie schwerlich als ein Sinnesorgan bezeichnen können. Aber zu ihr gehört der Tastsinn. Indes ist die Hand doch anders als eine bewegliche Ansammlung bewegbarer Tastfelder – vielleicht ein Greiforgan? Was also ist das Sehen im Unterschied zum Greifen? Einmal wird beim Sehen das Auge selbst nicht gesehen, die Hand dagegen sieht man beim Greifen nicht nur, ich kann sie sogar mit meiner andern Hand greifen. Wenn ich das Glas greife, so spüre ich das Glas und meine Hand. Das ist die sogenannte Doppelempfindung, nämlich das Empfinden des Getasteten und das Spüren meiner Hand. Beim Sehen spüre ich nicht mein Auge in dieser Weise. [...]
Der Unterschied zwischen dem Sehen des Fensterkreuzes und dem Sehen meiner Hand liegt unter anderem darin, dass die Hand meine Hand ist, das Fensterkreuz aber dort drüben steht. Die Hand vernimmt man, weil es meine Hand ist, in ihrer Lage auch ‹von innen› her.»

(Martin Heidegger, Zollikoner Seminar, hrsg. von Medard Boss, 3. Auflage, Frankfurt am Main 2006, S. 107f.).

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