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Die Frage, ob und wodurch das Nachzeichnen im Sinne eines Regelfolgens, bzw. ‹Geführtwerdens› bedingt ist, wird nach dieser Selbsterfahrung dann als Problem der beschreibenden Retrospektion ausgewiesen: «Aber nun merke ich dies: Während ich mich führen lasse, ist alles recht einfach, ich merke nichts Besonderes; aber danach, wenn ich mich frage, was damals geschehen ist, so scheint es etwas Unbeschreibbares gewesen zu sein.» [29] Das regelhafte Nachzeichnen erfolgt tatsächlich blind, insofern es als solches unbeachtet bleibt. Erst die retrospektive Deutung erfährt die «blosse Gleichzeitigkeit von Phänomenen» als problematisch, [30] und versucht einzelne Momente des Erlebten als Ursachen zu identifizieren. Obwohl dies unmöglich ist, besteht gleichwohl ein regelgebender Einfluss: «Denn es ist schon richtig, zu sagen, ich habe die Linie unter dem Einfluß der Vorlage gezeichnet; dies liegt aber nicht bloß in dem, was ich beim Ziehen der Linie empfinde, sondern auch, zum Beispiel, darin, dass ich sie der andern parallel ziehe (obwohl auch das natürlich für das Geführtwerden nicht allgemein wesentlich ist).» [31]

Wittgensteins Überlegungen zum Regelfolgen konzentrieren sich, unter Hinweis auf das Nachzeichnen, vorrangig auf dessen Unbestimmtheit. Die Beziehung zwischen vor- und nachzeichnender Hand wird dabei aber keineswegs als beliebige angegeben. Verbindlich ist, dass man sie nach Massgabe der je aktuellen Situation bewerten muss, dabei psychologische Erläuterungen vermeidet, sich auf die Faktizität der Zeichnungen konzentriert und zugleich immer berücksichtigt, dass die Zusprache eines Regelfolgens eine retrospektive Interpretation ist, die auch in gegenteiligem Sinne erfolgen kann.

Wittgensteins Fokus auf das Problem des Nachzeichnens artikuliert damit die Produktivität jeder Reproduktion. Die regelhafte Beziehung zweier zeichnender Hände wird letztlich als zulässige Abweichung innerhalb einer Wiederholung verstanden. Analog zu Barthes Rede vom Linkischen geht es um einen Kontrollverlust, analog zu Waldenfels’ Rede vom Ungebärdigen um Überschreitungen innerhalb einer Reproduktion. Damit wird aber der Eigensinn des jeweiligen zeichnerischen Geschehens hervorgehoben, der keineswegs nur Freihand- sondern ebenfalls technische Linien umfasst:

«Denke dir, Einer folgte einer Linie als Regel auf diese Weise: Er hält einen Zirkel, dessen eine Spitze er der Regel-Linie entlang führt, während die andre Spitze die Linie zieht, welche der Regel folgt. Und während er so der Regel entlang fährt, verändert er die Öffnung des Zirkels, wie es scheint mit großer Genauigkeit, wobei er immer auf die Regel schaut, als bestimme sie sein Tun. Wir nun, die ihm zusehen, sehen keinerlei Regelmäßigkeit in diesem Öffnen und Schließen des Zirkels. Wir können seine Art, der Linie zu folgen, von ihm nicht lernen. Wir würden hier vielleicht wirklich sagen: ‹Die Vorlage scheint ihm einzugeben, wie er zu gehen hat. Aber sie ist keine Regel!›» [32]

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