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Mondschau mit Teleskop

Im Zusammenhang mit den Bildnissen vom Sternenhimmel ist bemerkenswert, dass Felix in Exile voll von optischen Instrumenten aus den Bereichen der Astronomie und der Geodäsie ist. Sextant, Theodolit und Teleskop dienen dabei nicht nur als Vermessungs- und Vergrößerungsapparate, sondern auch als magische Sehmaschinen, die der ‹nackten› Sichtbarkeit ein mediatisiertes, manipuliertes und — am natürlichen Sehen gemessen — unmögliches Sehen entgegensetzen.

Wie bei Kentridge ist das Teleskop schon bei Galileo ein Apparat der Welterzeugung. Dank der Vergrösserung erkennt Galileo bei seiner Mondschau, dass die Mondoberfläche von Kratern und Bergspitzen gezeichnet ist. Die enorme Leistung seiner Mondschau besteht aber weniger in der Vergrößerung seines Beobachtungsgegenstandes als in den Rückschlüssen aus dieser Beobachtung. Galileo schliesst, dass der Mond entgegen dem gängigen Lehrsatz keine perfekte Kugelform hat, sondern, wie er in seinem Traktat Sidereus Nuncius notiert, dass seine Oberfläche «im Gegenteil uneben, rauh und ganz mit Höhlungen und Schwellungen bedeckt ist, nicht anders als das Antlitz der Erde selbst[20] Durch das Verfahren der analogischen Optik begreift Galileo, dass wie der Vollmond auch die ‹Vollerde› (wenn die Erde für einen extraterrestrischen Betrachter ‹voll› ist), das Licht der Sonne reflektiert. [21] Wenn Galileo eine «Nachricht von neuen Sternen» (Sidereus Nuncius) kundtut, so bezieht sich die Kunde nicht nur auf die bislang unbekannten Jupitermonde, sondern auch und gerade auf die Erde selbst. Hans Blumenberg bringt das astronoetisch auf den Punkt: «Galileo richtet das Fernrohr auf den Mond, und was er sieht, ist die Erde als Stern im Weltall.»

Der Teleskopblick setzt einen Prozess in Gang, der als Urszene einer abendländischen Selbstschau verstanden werden kann. Denn indem das Teleskop durch seinen Vergrösserungseffekt die fernen Gestirne in eine beobachtbare Nähe rückt, macht es nicht nur bislang Unsichtbares sichtbar, sondern der Teleskopblick erlaubt auch Rückschlüsse auf die Beschaffenheit des Beobachterstandpunktes, der Erde selbst. Der Erdsatellit wird der Erde zum Spiegel und bringt eine Selbstschau in Gang, in der die Erde ihr kosmisches Alleinstellungsmerkmal verliert und sie sich selbst «als Stern unter Sternen» [22] erkennt. Wie das Fernrohr des Galileo blickt auch Kentridges Fernrohr in zwei Richtungen. Eine Schlüsselszene des Films zeigt Felix vor einer anderen Sehmaschine: dem Spiegel, der zwar nicht vergrössert, aber wie das Teleskop einen Gegenblick erzeugt. In der Begegnung mit sich selbst nimmt Felix̕  Einsamkeit die sichtbare Form der abwesenden Nandi an. Zärtlich tastet Felix nach Nandis Gesicht, aber es bleibt unerreichbar jenseits des Spiegels. Stattdessen wächst ein Fernrohr aus dem Spiegel heraus und dehnt sich von der Spiegeloberfläche in zwei Richtungen aus, so dass Felix und Nandi sich Auge in Auge gegenüberstehen.

<<  Ausgabe 03 | Seite 106  >>