>>

Nach dem Prinzip der Mise en Abyme zeichnet die Hand des Zeichners eine zeichnende Hand. Anders als in der écriture automatique des Kinos der Moderne, die — beispielsweise in Henri-Georges Clouzots berühmtem Picasso-Film (1956) — den Film als selbstzeichnende Technik zu inszenieren pflegt, ist die zeichnende Hand bei Kentridge nicht unsichtbar. Vielmehr steht sie als anthropomorphe Aufzeichentechnik im Zentrum des Films. [3]

Als in der Schreibszene der Stift dann aber ein viertes Mal aufsetzt, geschieht das Unmögliche: Die Hand verschwindet aus der Filmwelt, die sie gezeichnet hat. Indem sich die Hand entzieht, wird sie zu einer Figur der Abwesenheit. Damit wechselt der Film in den Clouzot-Modus: Von dieser Geisterhand errichtet, stellt sich eine ‹vierte Wand› auf der Bühne des Geschehens auf, und das Bild im Bild beginnt ein von der Hand ihres Zeichners unabhängiges Eigenleben. Wie von selbst fliessen überall da, wo der Stift einen Strich auf das Papier gesetzt hat, blaue Pfützen aus dem Boden, so als habe der Zeichner Pfähle in das Papier getrieben, aus dem nun das Schreibfluidum wie Wasser aus einer Quelle herausquillt. Die symbolische Ordnung der Zeichnung greift auf die gezeichnete Landschaft über, in der sich das Wasserloch immer weiter ausbreitet, bis das Wasser das Zeichenblatt flutet und über seinen Rand hinaustritt.

Kentridges Zeichenstift ist ein eigentümliches Instrument. Mal zieht er Striche und reibt sein Material wie ein Kohlestift am Papier ab oder ergiesst sich wie ein undichter Füller, mal dringt er in die Schreiboberfläche ein, sticht und gräbt wie ein Stilus, der in der Tiefe eines Holz- oder Lehmtäfelchens einen Abdruck erzeugt.

<<  Ausgabe 03 | Seite 90  >>