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Überlegungen zum Erkenntnisgewinn faktischer Alternativen

«Sechs Bilder, in denen jeweils zwei Monate dargestellt sind – das ist nach Tolnay, die Lösung des ikonographischen Rätsels. Ich bleibe einen Moment bei diesem Gedanken. Sechs Bilder: drei in Wien, eines in Prag, eines in New York, und eines wird sehr bald hier an dieser Wand, in diesem Zimmer hängen, ein, zwei Tage lang, bevor es seinen rechtmäßigen Platz in der National Gallery einnehmen wird. Eines von sieben fehlenden Bildern aus Bruegels großer Landschaftsserie gefunden zu haben wäre eine ruhmreiche Leistung, in der ich mich bis ans Ende meiner Tage würde sonnen können. Aber das eine Werk gefunden zu haben, das den Zyklus vervollständigt…» [1]

Faktisch nicht ausgeführte, zumindest nicht überlieferte Gemälde poetisch zu imaginieren, um sie als Interpretationshilfe für tatsächlich ausgeführte Kunstwerke zu instrumentalisieren, mag im Rahmen eines Romans durchaus unterhaltsam sein, als Modus der wissenschaftlichen Reflektion ist das Verfahren ungeeignet. Und dennoch: die Geschichtswissenschaft kennt durchaus das Nachdenken über «ungeschehene Geschichte» und die Frage, «was wäre geschehen, wenn?». Diese von Alexander Demandt wissenschaftlich konzeptualisierte Betrachtungsweise der Geschichte nutzt kontrafaktische Szenarien unter anderem, um ein tieferes Verständnis für Entscheidungssituationen sowie eine Gewichtung von Kausalfaktoren zu gewinnen; weiterhin kann es hilfreich bei der Begründung von Werturteilen und der Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten sein. [2]

Ich möchte der ungeschehenen Geschichte einmal versuchsweise die ungeschehene Kunst(geschichte) zur Seite stellen. Nicht jedoch im Sinne einer kontrafaktischen Betrachtungsweise, sondern als eine Frage nach dem analytischen Potential faktisch realisierter Alternativen. Systematisch lässt sich das Feld dabei in zwei Bereiche unterteilen: 1. Fragen nach zentralen Entscheidungssituationen, die bei der Planung und Realisation komplexer Ikonographien auftreten können, sowie nach möglichen Gewichtungen einzelner Gestaltungselemente, die sich nur aus dem Abwägen alternativer Konzepte ableiten lassen. 2. Fragen nach den Möglichkeiten einer werkimmanenten Kunstkritik, d.h. Werturteile aus dem kontrastierenden Vergleich alternativer Bildkonzepte zu begründen.

Ausgabe 04 | Seite 102  >>