Ebd., S. 32.
Ebd., S. 31.
Vor diesem Hintergrund vereinigt die Landschaft Blühende Wiese auf unvorhersehbare Weise diese beiden Pole von Tradition und Avantgarde − wenn auch nicht in einem Bild, aber zumindest auf einer Leinwand: Das Porträt steht mit all seinen gestalterischen Elementen in deutlicher Analogie zu der alten holländischen Malerei. Die Landschaft wiederum weist die Leichtigkeit und Frische der Impressionisten auf. Die beiden Darstellungen repräsentieren zwei unterschiedliche künstlerische Paradigmen, die in der Biografie van Goghs als Schaffensphasen aufeinanderfolgen.
In diesem Sinne ist die Übermalung im Werk van Goghs programmatisch und es handelt sich nicht, wie man zunächst vermuten könnte, um eine Übermalung aus ökonomischen Gründen, wie es beispielsweise auch bei Max Pechstein, Erich Heckel oder Edvard Munch beobachtet wurde. [34] Die Übermalung ist eine bewusste Entscheidung, die aus einer Krisenerfahrung resultiert. Es ist eine Absage an seinen alten Stil, an seine vorangegangene Schaffensphase. Sie spiegelt jenen selbstreflexiven Moment, in dem van Gogh über sein eigenes Werk abwägt und prüft, ob es seinem eigenen sich im Wandel befindenden Kunstanspruch gerecht wird.
Am Ende dieses Entscheidungsprozesses steht die scheinbar sehr radikale Geste der Übermalung, die einerseits eine Unzufriedenheit und gleichzeitig die Hoffnung belegt, ein besseres Werk schaffen zu können. In der Übermalung gerade dieses Porträts steckt aber noch mehr: es ist der Abschluss einer künstlerischen Periode und der Neubeginn zugleich. Van Gogh reflektiert folglich nicht nur über die Qualität einer einzelnen Darstellung, er bringt sie auch in den Kontext seiner eigenen Entwicklung.
Die Blühende Wiese ist nicht die einzige Übermalung in van Goghs Oeuvre. [35] Auch andere Formen der Werkzerstörungen treten auf. Denn van Gogh übermalte nicht nur einige seiner Werke, er zerstörte sie auch. Wie Gottfried Boehm überzeugend darstellt, war der Akt der Zerstörung von entscheidender Bedeutung für das Werk des Künstlers. [36] Seine Malerei ist nicht nur durch eine «kaum vorstellbare Arbeitswut» gekennzeichnet, die auf eine «Qualität der Steigerung» zielte, so Boehm, sondern auch durch eine «nicht zu bändigende Selbstüberbietung, der schliesslich auch dieses Selbst nicht mehr genügte […]» [37]. Van Gogh brachte hervor, indem er zerstörte, indem er sich zerstörte. [38] Man denke hier nur an die tragische Selbstverstümmelung des Künstlers und seinen selbst verantworteten Tod. Gerade diese individuellen Lebensbedingungen, der selbstzerstörerische Lebensstil van Goghs, sind laut Boehm der Motor seiner künstlerischen Arbeit, wenn auch nicht allein der Erklärungsgrund. So muss auch die Zeit in Paris als eine Krisenzeit, eine Zeit der Brüche und Irritationen verstanden werden, die sich jedoch als äusserst produktiv gestaltete.