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Eine derartige Betrachtungsweise hat in der Kunstgeschichte bislang kaum Konjunktur. Am ehesten finden sich Ansätze in der Architekturforschung, deren Gegenstände immer wieder auch baulich nicht realisierte Modelle, also eben gerade faktisch belegbare Alternativen sind. Die luzideste Studie in diesem Sinne hat Horst Bredekamp mit dem Buch Sankt Peter in Rom und das Prinzip der produktiven Zerstörung [3] vorgelegt: Brüche und Planwechsel im architektonischen Realisationsprozess werden von Bredekamp als werkimmanente Reflexionsebene genutzt, um aus der Prozessualität der Werkgenese und aus der Kontrastierung von Optionen analytisches Kapital zu schlagen. Bredekamp versteht das Bauen im Falle St. Peters als «Negation von Zerstörung», also als eine Bewältigungsstrategie jener durch Zerstörung ungeschehenen, faktisch aber noch greifbaren Alternativen.

Was bei Sankt Peter funktioniert – so die Hypothese – müsste sich ähnlich gewinnbringend auch auf die Malerei übertragen lassen. Es kann dabei nicht um die Frage nach Pentimenti und kleineren Korrekturen in der schrittweisen Realisierung eines Gemäldes gehen. Im Vordergrund sollen vielmehr strategische Entscheidungen, Zäsuren, Brüche und Oppositionen stehen, die sich als ‹echte› Alternativen, d.h. durch einen kontrastierenden Vergleich auswerten lassen. Welche Ideen werden verworfen? Welche alternativen Gesamtkonzepte komplexer Bildarrangements werden erprobt, dann aber doch nicht realisiert? Solche und ähnliche Fragen nach dem Ungeschehenen in der Kunst ermöglichen es, eine werkimmanente Diskursebene zu erschließen, die ein zusätzliches Interpretations- und Bewertungspotential eröffnet.

Entscheidungssituationen und Gewichtung von Kausalfaktoren

Im Hinblick auf die Entstehung komplexer Ikonographien habe ich mich bereits an anderer Stelle mit Peter Paul Rubens‘ (1577–1640) typologischem Bildprogramm der Antwerpener Jesuitenkirche von 1620 beschäftigt. [4] Durch die Auswertung der überlieferten Schrift- und Bildquellen konnte ein alternativer Programmentwurf rekonstruiert werden, der einst bis ins kleinste Detail geplant und teilweise sogar schon umgesetzt wurde, vor seiner endgültigen Fertigstellung jedoch nochmals gravierende Modifikationen erfuhr. Erst aus dem kontrastierenden Vergleich des rational geplanten und dann später doch abweichend realisierten Bildensembles ergeben sich aufschlussreiche Einsichten in die Genese komplexer Ikonographien und jene künstlerischen Prinzipien, denen eine zentrale Rolle bei der Vermittlung der Programminhalte zukommt.

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