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In diesem Prozess deutet sich zwar durchaus schon die später so dominante Abfolge großer und kleiner Bildfelder für den Historienzyklus an; viel entscheidender ist jedoch, dass der Fokus der Zeichnung nach wie vor auf dem Gewölbeansatz liegt. Dort ist nun jedoch kein sitzender Apostel, sondern ein leerer Thron zu erkennen.

Wie bedeutsam dieses Detail des leeren Thrones ist, wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass alle Schwierigkeiten bei der Konzeption der Ornamentgeometrie gerade daher resultieren, dass Michelangelo hier nicht von der Gewölbemitte aus, sondern von den Zwickeln her plant. Bedeutungsvoll ist weiterhin, dass dem leeren Thron auf der Vorderseite des Blattes eine isolierte Sitzfigur auf der Rückseite antwortet, die nun jedoch nicht mehr als Apostel, sondern als Sibylle entworfen ist. [7]

Für den hier verfolgten Gedankengang ist es wichtig, dass es sich bei dem Austausch der Apostel durch die Sibyllen (und Propheten) um einen bewussten Vorgang handelt und dass diese Figuren weiterhin im Mittelpunkt der Programmplanung stehen. Bei diesem Figurentausch handelt es sich um eine kritische Entscheidungssituation, aus der heraus eine Reihe weiterer Modifikation resultieren: So beispielsweise die später erfolgte Entscheidung, den Deckenspiegel statt mit Ornamentfeldern mit Historienszenen zu dekorieren.

Der Einblick in die Entscheidungssituation erlaubt es, die einzelnen Elemente der Deckenikonographie gegeneinander zu gewichten und damit die Propheten und Sibyllen im Hinblick auf eine Interpretation des gesamten Bildprogramms stärker als bislang in der Forschung üblich in den Vordergrund zu rücken. [8] Diese heidnischen und alttestamentlichen Gestalten lassen sich als Künder der Ankunft, der Passion und der Todesüberwindung Christi interpretieren – ein thematischer Zusammenhang, der sich bereits im Bildprogramm des Quattrocento an den Wänden repräsentiert findet. Die Propheten und Sibyllen sind Repräsentanten einer früheren Heilszeit und ihre besondere geschichts-theologische Bedeutung liegt gerade darin, nach dem Prinzip der Verheißung und Erfüllung die unterschiedlichen Heilszeiten aufeinander zu beziehen und damit auf Gottes übergreifenden Heilsplan hinzuweisen. [9]

Mit der Wahl dieser typologisch-exegetischen Metafiguren bahnt Michelangelo einen Weg, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht gänzlich festgelegte Deckenikonographie (später als Genesiszyklus ausgeführt) auf den älteren und in sich bereits typologisch argumentierenden Moses- und Christus-Zyklus zu beziehen. Die biblischen und paganen Seher fungieren in dieser Perspektive als Beziehungsstifter zwischen dem alten und dem neuen Bildprogramm. Sie vermitteln durch ihre Position am Gewölbeansatz nicht nur formal zwischen den älteren Wand- und den projektierten Deckenbildern, sondern wirken auch als inhaltliches Bindeglied.

<<  Ausgabe 04 | Seite 107  >>