90 Minutes, TV-Sendung, 16. November 2011.
Innerhalb kürzester Zeit hatte Aliaa Elmahdy 14.000 Follower auf Twitter, über 2 Millionen Internetnutzer besuchten ihren Blog und hinterliessen Beschimpfungen und Morddrohungen, aber auch unterstützende Kommentare. #nudephotorevolutionary wurde zum Knotenpunkt einer lebhaften Kontroverse, nicht nur über die Bilder an sich, sondern auch um ihren Einsatz als politisches Mittel und ihren Anspruch, Kunst sein zu wollen. [5]
Dass die Aktfotos in einem islamischen Staat wie Ägypten öffentliche Empörung hervorrufen würden, hatte die Kunststudentin bewusst einkalkuliert. In einem Land, das nach dem Sturz von Präsident Husni Mubarak noch auf der Suche nach sich selbst war und ungeahnte Möglichkeiten der Subversivität barg, erwartete sie offensichtlich auch Sympathiebekundungen, schienen sich die Forderungen Elmahdys und der Demonstranten in den Strassen Kairos doch zu überschneiden. [6] Zwar priesen vereinzelte Stimmen ihren Mut oder verstanden ihr Verhalten als Aufforderung, sich an die Zeiten zu erinnern, in denen Nacktmodels in ägyptischen Kunsthochschulen noch an der Tagesordnung waren. Die säkularen und liberalen Kräfte, die am 28. November auf dem Tahrir-Platz demonstrierten, wendeten sich jedoch grösstenteils gegen die junge Kunststudentin.
Während sich mit der ‹Jugendbewegung des 6. April› (arabisch: شباب 6 ابريل) eine der prominentesten liberalen Protestbewegungen gegen das Mubarak-Regime sogar öffentlich von Elmahdy distanzierte, zeigten sich andere Aktivisten zerrissen. Die allgemeine Stossrichtung der Kritik war jedoch klar und zeigt sich exemplarisch in einem Zitat von Sayyed el-Qimini, einem prominenten Liberalen, in der politischen Talkshow «90 Minutes»: «This hurts the entire secular current in front of those calling themselves the people of virtue.» Und weiter: «It’s a double disaster. Because I am liberal and I believe in the right of personal freedom, I can’t interfere.» [7]
Deutlich tritt hier ein Bruch zwischen den gewachsenen Werten einer Gesellschaft und einem demokratischen Imperativ zu Tage, der im Kontext der Revolution einen extrem politischen Charakter hatte und den konsensuellen Werten zum Teil zu wider lief. Selbst in einem gefestigten demokratischen Staat hätten die Bilder wohl Empörung hervorgerufen, weil sie aus der Mitte der Gesellschaft stammen und nicht aus der Unterhaltungsindustrie. Allerdings hätte die Kritik dort auf einen Verfall gesellschaftlicher Werte gezielt, während den nach Demokratie strebenden Kräften in Ägypten eher die Form des protests ein Dorn im Auge war. Im Ägypten der Revolution galt die Forderung nach Freiheit als politisches Instrument, als bedeutendste Forderung gegenüber einer die persönliche Freiheit missachtenden Gesellschaft. Entsprechend durfte dieses Instrument nicht durch die zur Schau gestellte Nacktheit beschmutzt und somit für den politischen Kampf untauglich gemacht werden.