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Dies kann freilich auf unterschiedliche Weise und zu verschiedenartigen Zwecken geschehen. Aristophanische Wendungen konnten und können zum Beispiel ein Mittel sein, um sich mit Genuss der Illusion hinzugeben, die Einseitigkeit des Bildes ließe sich zugunsten eines durchgängigen und vollständigen Abbildens überwinden. So geschah es beispielsweise in ikonischen Epigrammen, die seit der Antike von schweigenden Bildnissen, erblassenden Marmorstatuen und dergleichen sprachen. Hier wurde – die komplexesten Beispiele sind wohl in der italienischen Kultur der Frühneuzeit zu finden – dem jeweiligen Bild viel, ja zu viel zugemutet: Es wurde auf einen prinzipiell unerreichbaren Grad von Abbildlichkeit verpflichtet. Oft wurde es als ein lebendiges Wesen angesprochen – mit der Konsequenz, dass sich die Unvollständigkeit der Mimesis umso pointierter bemerkbar machte.

Das Bild sprach eben doch nicht, atmete nicht, bewegte sich nicht, und hatte vielleicht auch nicht die Farbe eines lebendigen Körpers. Die entscheidenden Spielzüge bestanden dann immer darin, dass die angesichts übertriebener Erwartungen auffällig gewordenen nicht-mimetischen Aspekte des Bildes in einer rekursiven Wendung noch einmal mimetisch gedeutet wurden. Dass die Malerei in gewisser Weise einseitig ist und sich nicht um die Wiedergabe der Stimme kümmert, wurde dann als ein Schweigen des Bildes interpretiert, dass Skulpturen stillstehen, als ein Innehalten, Zögern oder Erstarren ausgelegt, dass sie die Farbe des Marmors aufweisen, als ein Erblassen beschrieben.

Man imaginierte, die vom Bild dargestellten Dinge oder Personen unvermittelt zu sehen und interpretierte möglichst viele am Bild gewonnene Beobachtungen als Beobachtungen an der jeweils dargestellten Sache. Und da nie mit Sicherheit vorweggenommen werden kann, wo im Bild die Grenze zwischen mimetischen und nicht-mimetischen Elementen verläuft, konnte dieses Spiel beinahe beliebig fortgesetzt und verfeinert werden, ja es konnte sogar in die Herstellung von Bildern mit eingehen. Was in einem Bild nicht-mimetisch war, zum Beispiel die Textur der Leinwand, konnte in einer anderen Betrachtungsweise oder im nächsten Bild mimetisch werden, etwa als Suggestion einer bestimmten Oberflächenqualität der dargestellten Sache.

Zweifellos war – und ist – es vergnüglich, Ausflüge auf die ‹andere Seite des Bildes› zu unternehmen und diese andere Seite als ein Reservoir zu betrachten, aus dem das Auge, das sich den Freuden des imaginativen Sehens hingibt, jederzeit neue, noch ungesehene mimetische Aspekte hervorziehen darf. Man gleitet einen Abhang des Bildes hinab, der vom aufgeklärten Bewusstsein seiner einseitigen, weil niemals vollständigen und niemals durchgängigen Abbildlichkeit zum paradoxen Wunschbild eines zugleich vollständigen und durchgängigen Abbildes (das keines mehr wäre) hin abfällt.

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