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Anders als bei den ikonischen Epigrammen ging es in diesem Fall (wie in vielen analogen Fällen) selbstverständlich nicht darum, ein an sich unmögliches, weil vollständig und durchgängig mimetisches Bild zu imaginieren. Vielmehr sollte lächerlich gemacht werden, dass und wie Degas die mimetische Seite des Bildes zugunsten nicht-mimetischer Aspekte zurückgedrängt hatte. Der angewandte rhetorische Trick folgt dem Muster von Aristophanes’ ironischer Bemerkung: Wenn man dem jeweils dargestellten Körper einen Mangel oder Makel zuschreibt, hier eine buchstäbliche Befleckung oder Beschmutzung, dort die entzwei geschnittene Nase, so geschieht dies deshalb, weil man das Bild, das solche Mängelwesen (angeblich) produziert, verwerfen und einem schadenfrohen Gelächter preisgeben möchte. Als Maßstab der Beurteilung diente in der französischen Salonkritik des 19. Jahrhunderts freilich nicht ein philosophischer Begriff von Ebenbildlichkeit, sondern die durch die akademische Malerei gesetzte künstlerische Norm.

Aristophanische Wendungen kamen und kommen aber nicht nur in der Bildwahrnehmung und im Sprechen über Bilder vor, sie kennzeichnen auch die Art und Weise, wie sich bestimmte Bilder auf andere Bilder (oder auf die von anderen Bildern in Anspruch genommenen Darstellungsmittel) beziehen. Sie lassen sich, anders gesagt, auch in Gestalt von interpikturalen Wendungen beobachten.

Als Beispiel mag eine bekannte Illustration Oskar Kokoschkas zu seinem Stück Mörder, Hoffnung der Frauen von 1910 dienen. Kokoschka gewann dem alten Kunstmittel der Schraffur dadurch neues Leben ab, dass er es teilweise von seiner mimetischen Funktion entband. Wo die Schraffen sich der Aufgabe des Modellierens von Körpern und Modulierens von Licht und Dunkel verweigern, werden sie als Markierungen auf dem Papier auffällig und können als Formen für sich betrachtet werden. Man mag diese auffällig gewordenen, verfremdeten Schraffurlinien in einem weiteren Schritt als Seismogramme einer erregten Künstlerseele deuten, sie also mit einer neuen Darstellungsaufgabe belehnen. Ihre Abbildlichkeit würde auf diese Weise nicht etwa wieder hergestellt, sondern durch eine Ausdrucksfunktion ersetzt.

Der springende Punkt ist hier jedoch ein anderer: Kaum dass die Schraffurlinien aus dem Bild gefallen und auf dem Papier zu liegen gekommen sind, kehren sie im fiktiven Bildraum wieder und richten dort Unheil an. Gerade der Aspekt von Schraffuren, der immer schon nicht-mimetisch war: der Umstand, dass es sich um Bündel diskreter Markierungen handelt (die dennoch kontinuierlich verlaufende Schattierungen darstellen sollen), wird auf einmal mimetisch, und es entsteht, wenigstens ansatzweise, der Schein, als ob manche dieser Linien in die Haut der dargestellten Körper einschneiden würden.

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