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[24]

Zitiert nach Freud, Kindheitserinnerung (Anm. 20), S. 140.

[25]

Siehe die editorische Vorbemerkung zu den Kindheitserinnerungen (Anm. 20), S. 89.

 

«Auf dem Bilde, das die Mutter des Künstlers darstellt, findet sich nämlich in voller Deutlichkeit der Geier, das Symbol der Mütterlichkeit. Man sieht den äußerst charakteristischen Geierkopf, den Hals, den scharfbogigen Ansatz des Rumpfes in dem blauen Tuche, das bei der Hüfte des vorderen Weibes sichtbar wird und sich in der Richtung gegen Schoß und rechtes Knie erstreckt. Fast kein Beobachter, dem ich den Fund vorlegte, konnte sich der Evidenz dieses Vexierbildes entziehen.» [24]

Aber damit nicht genug. Nicht nur, dass eine verblüffende, anatomische Ähnlichkeit besteht, selbst der Schwanz, der tüchtig im Mund des Kindes »herumarbeitet«, ist zu sehen, denn der Fuß des Geiers befindet sich genau auf der Höhe des Mundes des abgebildeten Knaben. Derartiger Beweiskraft in Form von bis heute sichtbarer, bildlicher Evidenz ist kaum zu entgehen und doch hielt die Rezeptionsgeschichte bekanntlich eine letzte, jedoch entscheidende Pointe zu diesem neuralgischen Punkt von Freuds Kindheitserinnerungen bereit. Wie sich nämlich bald herausstellte, beruht Freuds «Geierphantasie» auf einem Übersetzungsfehler. [25] In der von Freud verwendeten, deutschen Übersetzung des Codice Atlantico wird das italienische nibbio mit «Geier» übersetzt, während jedoch eigentlich «Milan» richtig wäre, der Name einer Greifvogelart, die mit einem Geier keinerlei Ähnlichkeit aufweist.

Man könnte nun, und das ist natürlich auch getan worden, ob dieser Tatsachen hämisch werden und Freuds Aufsatz jeden Wert absprechen, schließlich fällt das mühsam errichtete Argumentationsgebäude der Kindheitserinnerung zusammen, da der Geier in seinen so ausführlich dargestellten, symbolischen, mythologischen und bildlichen Dimensionen sich für die zitierte Textstelle als irrelevant erwiesen hat. Viel interessanter erscheint es jedoch, den Blick auf ein Vexierbild zu lenken, dessen Figur sich vor einem Grund abhebt, dessen Skandalon es ist, keine Wirklichkeit sui generis zu besitzen. Um was handelt es sich bei diesem Grund? Um reine Fiktion? Die persuasive Kraft eines Textes? Die epistemische Macht eines Diskurses?

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