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Odradeks Seinsmodus ist in gleichem Maße Auffälligkeit und Aufsässigkeit, Irritation mit prekärer Ontologie und Bedingung der Möglichkeit des Sprachgebildes namens Die Sorge des Hausvaters zugleich.

Diese Art und Weise wie Erscheinung zur Welt kommt, ist natürlich vor allem auch Grundproblem der Bildtheorie, das sich in der Figur/Grund Problematik exemplarisch zeigt [18], aber nicht auf diese beschränkt bleibt. Vielmehr ist entscheidend zu betonen, dass es sich hier um eine Denkfigur handelt, die aus der Sphäre des Optischen stammt und über diese hinausgehend epistemische Funktion übernimmt, indem sie erlaubt, anhand einer optischen Wahrnehmungsmetapher ein logisches Problem (nämlich des «ausgeschlossenen Dritten») in Tuchfühlung mit der Phänomenalität der sichtbaren Welt zu bewältigen. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass auch Gebilde existieren, die in einer Art Inversion der Odradekschen Seinweise sichtbar sind, ohne wirklich zu sein.

III. Freud

Das Problem der Bildlichkeit als solches hat sich Sigmund Freud nie explizit gestellt. Darüber hinaus ist auffällig, wie wenig der Begründer der Psychoanalyse Bilder in seine Schriften einbezog. Vielmehr ragen diese, wenn sie es denn einmal in einen fertigen Text schaffen, als illustrative Fremdkörper merkwürdig deplatziert in die Schrift hinein, selbst dann, wenn sie zur unmittelbaren Evidenzkraft des Gesagten maßgeblich beitragen. [19] Die implizite Bildtheorie Freuds hingegen, die bereits in zentralen Kapiteln der Traumdeutung zu finden ist, harrt noch ihrer umfassenden Rekonstruktion. Für eine solche müssten auch jene Texte neu gelesen werden, die sich explizit mit Bildwerken beschäftigen. Zu diesen gehört neben dem Aufsatz «Der Moses des Michelangelo» auch die, im historischen Rückblick eher glücklose, Arbeit «Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci» von 1910.

In diesem Text, auf den Freud sehr stolz war und den er für einen seiner literarisch gelungensten hielt, steht eine bestimmte Kindheitserinnerung Leonardos im Mittelpunkt, die unter der von Freud geprägten Bezeichnung «Geierphantasie Leonardos» bekannt geworden ist. Es handelt sich dabei um eine vermeintliche oder reale Erinnerung Leonardos, die im Codice Atlantico festgehalten ist und deren ins Deutsche übersetzten Wortlaut Freud wie folgt wiedergibt:

«Es scheint, daß es mir schon vorher bestimmt war, mich so gründlich mit dem Geier zu befassen, denn es kommt mir als eine ganz frühe Erinnerung in den Sinn, als ich noch in der Wiege lag, ist ein Geier zu mir herabgekommen, hat mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet und viele Male mit diesem seinen Schwanz gegen meine Lippen gestoßen.» [20]

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