Ebd., S. 112.
Ebd., S. 114.
Es würde einigen Raum einnehmen, die gewundenen Argumentationswege vollständig nachzuzeichnen, mit denen Freud eine ganze Psychopathologie Leonardo da Vincis auf der Grundlage dieses einen unscheinbar wirkenden Textstücks konstruiert. Vereinfacht ausgedrückt, geht es Freud darum, eine gewisse, in der Forschung seiner Zeit vieldiskutierte und gut belegte, Hemmung Leonardos zu erklären, die sich in dem Umstand zeigt, dass kaum eines der wenigen Werke des Florentiner Meisters jemals vollendet wurde. In «Eine Kindheitserinnerung des Leonardo» versucht Freud unter Aufbietung all seiner schriftstellerischen und argumentativen Fähigkeiten einen ‹Fall Leonardo› zu konstruieren, der dessen Hang zum Unvollendeten mit einer pathologischen Passivität zu begründen versucht. Diese wurzele in Leonardo da Vincis homosexueller Neigung, welche wiederum auf eine zu enge Mutterbindung zurückzuführen sei. Diese biographistische Interpretation künstlerischen Schaffens ist in der Nachfolge Freuds eine Zeit lang zu einer populären Analysemethode innerhalb der Kunstwissenschaften geworden. Im historischen Rückblick hat dies – nicht ganz ohne Berechtigung – zur Diskreditierung der Kindheitserinnerungen geführt.
Es soll an dieser Stelle jedoch nicht erneut um eine methodologische Kritik des hier zur Anwendung gebrachten, kruden Biographismus, sondern um die Gravitationskraft gehen, die vom Erinnerungsbild Leonardos und vor allem von Freuds Interpretation desselben ausgegangen ist und letztlich sogar im Stande war, sichtbare Evidenz zur produzieren, die ohne jede Wirklichkeit auskommt.
Der Geier in der Kindheitserinnerung Leonardos ist für Freud in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Zum einen ist für den Psychoanalytiker die Tätigkeit des Geiers bemerkenswert, der «den Mund des Kindes öffnet und mit dem Schwanz tüchtig darin herumarbeitet» [21]; ein Vorgang, der von Freud unmittelbar mit Fellatio in Verbindung gebracht wird. Zum anderen führt diese vermeintlich homoerotische Phantasie Leonardos Freud auf direktem Wege zu jener passivischen Grunddisposition des Homosexuellen ‹an sich›, die wiederum über die Verbindung Schwanz – Fellatio – Brust auf die säugende Mutter verweisen soll. Freuds Pointe ist dabei, dass der Geier als Symbol für die Mutter identifiziert wird, indem er eine ziemlich weit hergeholte Verbindung zur ägyptischen Mythologie und zwar über die «mütterliche Gottheit» Mut herstellt, deren Darstellung «geierköpfig gebildet wurde oder mit mehreren Köpfen, von denen wenigstens einer der eines Geiers war. Der Name dieser Göttin wurde Mut ausgesprochen; ob die Lautähnlichkeit mit unserem Wort Mutter nur eine zufällige ist?» [22]