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Freud setzt alles auf eine Karte: Mit dem Bild des Geiers steht und fällt die gesamte Argumentation und der Autor der Kindheitserinnerung nimmt selbst fadenscheinige philologische Herleitungen in Kauf, um diesen Nukleus seiner Argumentation zu untermauern. Dem Leser der Leonardo-Studie wird der selbst für Freuds Verhältnisse ungewöhnlich hohe Spekulationsgrad des Aufsatzes ebenso auffallen, wie die Tatsache, dass das ganze Konstrukt beim Lesen nichts desto trotz durchaus plausibel wirkt und die klaffenden Lücken in der Beweiskette die Tendenz haben, erst im Nachhinein gänzlich zu Tage zu treten.

Ungeachtet dessen wurden Freuds Bemühungen zunächst belohnt und die epistemische Macht der psychoanalytischen Methode war bereits 1913 offenbar groß genug, um selbst diesem im Vergleich eher schwächeren Text innerhalb des Freudschen Gesamtwerks zu unverhofftem, neuen Beweismaterial zu verhelfen. 1919 fügt Freud der Neuauflage der Kindheitserinnerungen eine Fußnote hinzu, welche diesen erstaunlichen Fund dokumentiert und obwohl Freud selbst sich skeptisch gibt, was die Beweiskraft dieser trouvaille betrifft, so lässt er es sich doch nicht nehmen, diese gänzlich aus der Quelle [23] zu zitieren und deren Bezugspunkt, Leonardos Heilige Anna Selbdritt in der schematischen Zeichnung Pfisters, abzudrucken:

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