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Die Rede der Diotima im Symposion führt so bereits in eine Richtung, die die positive Wertung des Kunstschaffens unterstreicht, indem sie auf die Wichtigkeit eines Nachdenkens über diejenigen verweist, die etwas Neues hervorbringen und denen aufgrund ihres Erfindungsgeistes auch eine besondere Bedeutung zugeschrieben werden muss – ihres Erachtens sind dies die Künstler. Sie besitzen «in der Seele Zeugungskraft […] viel mehr als im Leibe» [36] und zeigen sich hierin von nachhaltigem Wert für die Gemeinschaft. Diotima spricht von «Weisheit und jede[r] andere[n] Tugend, deren Erzeuger auch alle Dichter [poiētai] sind und alle Künstler [dēmiourgoi], denen man zuschreibt, erfinderisch zu sein.» [37]

Im Dialog Ion widmet sich Platon der Frage, woher der Erfindungsgeist der Künstler rühren könnte, wobei er sich hier ausschließlich der Dichtkunst und den Rhapsodien widmet. In diesem Zusammenhang wird einmal mehr die Diskussion rund um den epistemologischen Gehalt des Kunstschaffens eröffnet. Geradezu konträr zum zehnten Buch der Politeia argumentiert Sokrates hier, dass es um die Dichtung in erkenntnistheoretischer Sicht ganz außerordentlich bestellt sei, insofern die Dichter als von Göttern Inspirierte gelten und somit zu einer höheren Erkenntnis Zugang haben als die Nicht-Dichter. Der Dichter spricht nicht aus seiner eigenen Erfahrung oder Einsicht, sondern er wird begeistert, wodurch seine Aussage als wahre Rede motiviert ist. [38] Die Begeisterung der Dichter geht auf diejenigen über, die sich mit ihrer Dichtung befassen, worin der ethische Wert ihrer Kunst gesehen werden kann – indem man sich mit der Dichtung befasst, kann man zu eben der Wahrheit gelangen, die den Dichter selbst inspiriert hat. [39]

In der Auseinandersetzung mit Ion erweist sich also die Begeisterung als Bedingung der Dichtkunst. Im Dialog Phaidros wird ebenso der Bezug des Nachahmenden zum Nachgeahmten befragt und auch hier wird den Künstlern eine besondere Erkenntniskraft zugebilligt. Die ethischen Konsequenzen, die mit dieser Erkenntniskraft in Verbindung stehen, zeigen sich diesmal allerdings ganz anders gelagert. Sokrates fragt sich im Gespräch mit Phaidros zunächst, was als die Voraussetzungen einer richtigen bzw. einer täuschenden Darstellung gelten können. Im Unterschied zu den Ausführungen in der Politeia kommt er hier zum Schluss, dass jemand, der in der Kunst der Nachahmung geübt ist, sehr wohl «die wahre Beschaffenheit eines jeden Dinges» [40] kennen muss, egal ob er das Ding richtig oder trügerisch abbildet. Es handelt sich in der sokratischen Argumentation an dieser Stelle damit keineswegs um ein kausales Verhältnis zwischen Erkenntnisvermögen des Künstlers und der ethischen Qualität der Darstellung. Sowohl die «gute» als auch die «schlechte» Nachahmung basieren auf einer soliden Erkenntnis des wahrhaft Seienden, zu der sich der Künstler diesmal aber verschiedentlich verhalten kann.

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