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Die ethische Wende ist für Rancière damit eine Art von Gleichmachung, die keine Differenzen kennt, eine, wie er es nennt, «Ununterscheidung». Seiner Ansicht nach ist im Lichte einer solchen Ordnung keine Politik möglich, denn «[d]as Prinzip der Politik ist der Dissens» [9]. Konsens macht keine Politik, sondern er unterwandert sie. Solange nämlich Konsens herrscht, befinden wir uns ganz unbefragt innerhalb der Logik eines festgelegten Ordnungssystems. Die gegebene Ordnung bestimmt dann, wer beherrscht und wer beherrscht wird, wer sichtbar ist und wer unerhört bleibt.

Politik ist für Rancière im Gegensatz zur Logik des Konsenses durch und durch dissensuell. Politik gilt ihm, noch provokanter formuliert, als «symbolische Gewalt», die er von anderen Gewaltformen unterscheidet. Was jene Art der Gewalt ausmacht, versucht Rancière folgendermaßen zu fassen:

«Es gibt die Gewalt der Beherrschung, die stets in den Gegebenheiten der sichtbaren Welt die Evidenz ihrer Rechtmäßigkeit, die Evidenz der Zeichen der Ungleichheit zeigt. Und es gibt die Gewalt des Aufstandes oder der Revolte, die die nackte Gleichheit der Waffen ausspielt, die aber unfähig ist, die Zeichen der Gleichheit zu zeigen. [...] Die dritte Möglichkeit, die die Gesellschaften jenseits des Begriffspaares Beherrschung/Revolte existieren läßt, ist ein dritter Krieg oder eine dritte Form der Gewalt. Eben diese spezifische Gewalt verdient den Namen ‹Politik›. Diese Gewalt betrifft wie die anderen die Aufteilung des sinnlich Wahrnehmbaren. Ihr Prinzip ist das Aufzeigen von Zeichen der Gleichheit in einer Welt, in der die Gleichheit nicht sichtbar ist, wo, mehr noch, die symbolische Fähigkeit derer, die diese Zeichen zeigen, nicht anerkannt wird.» [10]

Während sich die Beherrschung und die Revolte in ein gegebenes System der Ordnung einfügen und dieses aus ihrem Inneren stärken bzw. zerschlagen, operiert die Politik als symbolische Gewalt und Dissens an anderer Stelle. Die Politik wirft nämlich den Blick auf diejenigen, denen im bestehenden Ordnungsrahmen gar keine Sichtbarkeit zufällt, die hier ungesehen oder ungehört bleiben. Damit steht die Politik setzenden systemischen Entwürfen wie Regierungen entgegen. Sie ist dasjenige Moment, das eine bestehende Ordnung brechen lässt, ohne aber eine neue Ordnung zu installieren, die die zerbrochene ersetzen würde. In der Politik geht es folglich um ein permanentes neues Ausverhandeln einer gemeinschaftlichen Aufteilung des Sinnlichen und der Werte, auf die sich eine Gemeinschaft stützt.

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