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Sie führte zu einer weitgehenden Anerkennung ihrer Vorgehensweise – mit dem Effekt, dass die im Vergleich zur Hirnforschung und zur Soziologie noch ganz junge Forschungsrichtung der Social Neurosciences sich inzwischen anschicken darf, zur ultimativen Instanz bei der Erforschung der sozialen Natur des Menschen aufzusteigen und mittlerweile nur umso fester als forschungsintensiver Wissenschaftsbereich etabliert wurde.

Die künstlichen Welten eines neuen Materialismus

Dieser wissenschaftssoziologischen Beobachtung, dass das inkriminierte Forschungsfeld sehr viel komplexer zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit positioniert und vernetzt ist, als im öffentlich ausgetragenen Streit artikuliert werden konnte, entspricht eine ebenso wichtige wissenschaftsphilosophische Besonderheit der gegenwärtigen Forschungen in diesem Bereich. Die avancierte Hirnforschung der Social Neurosciences operiert zwar nach wie vor im Paradigma einer naturalisierten Epistemologie, das seit der Decade of the Brain in den Neurowissenschaften als verbindlich gilt und wonach nur als wirklich gelten kann, für das sich ein neurophysiologisches Korrelat beibringen lässt. Im Materialismusstreit des 19. Jahrhunderts hatte ein Vorläufer dieses Paradigmas der Geisteraustreibung gedient und Seele, Gott und den freien Willen aus der Welt verbannen sollen. Bei seiner Neuinszenierung am Ausgang des 20. wurde es für die Austreibung von Freiheit, Geist und Bewusstsein aus dem Hirn mobilisiert.

Gerade die jüngsten Wendungen der Neurowissenschaften und der Aufstieg der Social Neurosciences weisen jedoch darauf, dass trotz der Fortgeltung des Paradigmas der dabei proklamierte Erfolg mehr ein Sieg auf dem Papier in Form von Manifesten war: Denn die neuen Bilder aus der Hirnforschung frönen längst nicht mehr einem platten Reduktionismus auf neuroanatomische Substrate, sondern zielen vielmehr darauf, funktionale Hirnaktivität in Relation zu komplexen psychosozialen Phänomenen zu visualisieren. Epistemologisch verbleiben auch diese Bilder im naturalistischen Paradigma, aber ontologisch bereichern sie die Wirklichkeit um eine stetig wachsende Zahl fortan vermeintlich natürlicher Gegenstände von ehemals zweifelhafter wissenschaftlicher Dignität. Geist und Seele bleiben dabei vorläufig zwar noch Gespenster, aber Empathie und Fairness z.B. haben ihren Anerkennungsprozess erfolgreich abgeschlossen. Sie wurden «naturalisiert» wie Ausländer eine neue Staatsbürgerschaft bekommen.

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