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Kuhn, Komposition und Rhythmus (Anm. 2), S. 114.

 

Dies sollte nicht als normatives Votum für harmonische oder organische Zusammenhänge verstanden werden, sondern als elementare Beschreibung dessen, was es bedarf, damit überhaupt Zusammenhang entsteht. Durch die nicht weniger konstitutive Diskontinuität aber ist dieser Zusammenhang jederzeit prekär. Die Rekonstruktion des Rhythmus als gerichtete Spannung, mit der seine Zeitlichkeit ernstgenommen werden soll, ist ohnehin weit von einem bloßen «Und so weiter» entfernt. In diesem Sinne Kuhn: «Da das diskontinuierlich Folgende aus dem Vorhergehenden nicht abgeleitet, sondern unvorhergesehen, wie aus dem Nichts folgt, ist es Ereignis.» [19] Unvorhergesehen im strengen Sinne ist natürlich nichts auf dem Bild, da es in der Überschau zumindest in groben Zügen vorweg aufgefasst worden ist. Im Sinne der prozesshaften Realisierung kann dennoch von Unvorhersehbarkeiten und Überraschungen gesprochen werden, insofern man auch vom bereits Gesehenen als im Verlauf Auftauchendem noch unvorbereitet getroffen werden kann.

Der Begriff des Ereignisses, den Kuhn bemüht, ist in den vergangenen Jahren zu einem vielbeschworenen Motiv geworden, das nicht überstrapaziert werden sollte. Es wird hier ganz als innerbildliche Kategorie eingesetzt, im Sinne einer Plötzlichkeit, die in die gestisch-kontinuierliche Betrachtung einbricht und nur nachträglich eingefangen, aber nicht neutralisiert werden kann. Man ist nicht darauf gefasst gewesen – insofern die Zukunft wirklich offen ist, ist man nie auf das gefasst, was kommt, denn es gibt keine vollständige Vorbereitung. Wenn diese Offenheit zusammenbricht, verliert sich auch die rhythmische Spannung und das Bild als solches bricht zusammen, wird als spannungslos vorliegendes schal und uninteressant.

Will man in der Beschreibung nun aber nicht alle Katzen grau werden lassen, sollten manifeste, als solche aufgefasste Diskontinuitäten noch einmal davon abgehoben werden, und sie sind es auch, die Kuhn im Auge hat. In diesem Sinne kann auch der Gekreuzigte bei Grünewald als Ereignis in der rhythmischen Folge der Figuren im Vordergrund verstanden werden, als plötzlich Einbrechendes, das sich aber gleichzeitig noch zurückhält und seine nach oben gerichtete Bewegung nicht entfaltet. Ein zweites Mal in einem ganz anderen Sinne ist die Figur Ereignis, wenn der Betrachter aus der Vergangenheit des Hintergrundes zu ihr zurückkehrt (nach Sebald: stürzt) und sie nun in ihrer ganzen kaum zu ertragenden Präsenz in seinen Blick explodiert.

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