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«Es wird nämlich im allgemeinen der Bildteil links unten ausgebildet als ein Kompositionsanfang, die Bildmitte zur Entwicklung des Themas (oder verschiedener Themen) benutzt, und im normalen Falle der Bildteil rechts als Schluß gestaltet» [14] – «wenn sonst nichts dagegen spricht» [15], wie man mit Wölfflin hinzufügen muss, denn all dies kann durch die konkrete Gestaltung verändert werden. Die Annahme von Anfang, Entwicklung und Schluss des Bildes fasst dieses zwar als Prozess, dessen rhythmische Gliederung beobachtet werden kann, ist aber doch deutlich zu stark, indem sie einen eindeutigen und auch abschließbaren Verlauf suggeriert, der eine «folgerichtige Interpretation» erlaubt; man sollte vielleicht eher von Einstieg sprechen und die Vorstellung eines Schlusses ganz vermeiden. Das Rhythmuskonzept, das sich auf diese Weise konturiert, wird nicht von außen an die Bilder herangetragen, sondern kann und muss aus ihnen entwickelt werden, und zwar jeweils in concreto. In diesem Sinn möchte ich nun, statt weitere Bestimmungen zu versammeln oder die hier skizzierten weiter auszuarbeiten, auf das Kreuzigungsbild zurückgehen und eine solche Beschreibung versuchen.

Auch wenn die Figur des ans Kreuz geschlagenen Christus das Bild zentral beherrscht, bildet sie nicht den naheliegenden Einstieg; das ist tatsächlich viel eher die links stehende, mit einem dunkelblauen Mantel bekleidete Maria. Von ihr aus geht die Bewegung nach rechts, wobei sich eine Ambiguität ergibt: Während ihr Blick leicht erhoben ist und auf den Gekreuzigten geht (allerdings nicht höher als etwa in seine Leibesmitte), weist die durch ihr Gesicht und ihre Hände gebildete Linie scharf nach unten. Dies weist voraus auf den tatsächlichen weiteren Aufbau, denn die Bewegung, die in einer leicht nach oben gehenden Linie die Reihe der Köpfe ablaufen könnte, begegnet hier einer Lücke und wird nach unten auf die beiden am Fuße des Kreuzes kauernden Frauen gezogen.

Hier begegnen wir einer weiteren Ambiguität, die deren Anordnung betrifft: Die eine wird teilweise von Maria verdeckt, so dass ihr noch dazu rotes Gewand unmittelbar auf diese folgt und damit früher ist als die zweite Figur; auf der anderen Seite ist das Verhältnis der beiden Köpfe umgekehrt, und noch dazu steht der der zweiten deutlich höher. In gewisser Weise blockieren die beiden sich sowohl in ihrer zweifelhaften Vorrangigkeit als auch in der Bewegung nach oben (Blick der zweiten) und nach unten (Gesamthaltung der ersten) gegenseitig. All dies findet an einer kompositorisch wenig betonten Stelle statt, so dass es wie eine komplexe und spannungsgeladene, aber untergeordnete rhythmische Figur wirkt, die aber genau die Stelle des in der Reihe zu erwartenden vierten Kopfes einnimmt.

<<  Ausgabe 05 | Seite 155  >>