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Frey, Zum Problem der Symmetrie in der bildenden Kunst (Anm. 9), S. 250.

 

Der Grundrichtung nach rechts folgend könnte der Blick nach oben den Weg vorgeben, der aber durch den Zug nach unten gebremst und zurück in die ursprüngliche Richtung gelenkt wird. Die Beine der Christusfigur drängen sich auf, sind aber sozusagen noch nicht Thema; sie wirken wie ein Vorgriff, dem ein explizites «Noch nicht» beigesellt ist. Überdies bildet der Kopf der zweiten eine Linie mit den zum Gebet erhobenen Händen und dem Kopf des nun rechts vom Kreuz stehenden Johannes, auf den wir als nächstes stoßen. Seine gefalteten Hände lehnen fast am linken Bein Christi, und sein Blick ist leicht erhoben auf ihn gerichtet. Trotz dieser doppelten Nähe bleibt auch hier der Eindruck des «Noch nicht», so dass es weniger zu einer Rückbewegung auf den Gekreuzigten zu kommt als zu einem Stillstand. In einer weniger zwingenden Nebenbewegung leitet das rote Gewand des Johannes wie ein reminiszierendes Seitenmotiv zurück zu dem der ersten Kauernden, dem es farblich entspricht und mit dem es – zusammengehalten und getrennt durch das herabhängende Kopftuch der Frau – räumlich verbunden ist; schließlich aber ist der Sog des ganz rechts stehenden Ritters so groß, dass der Blick der Hauptlinie folgt.

Dieser Ritter ist nicht nur wegen seiner Rüstung weitgehend statisch; er wirkt eher wie ein Kommentar zur Szene als wie ihr Teil. Der rechte Rand ist erreicht, ohne dass das eigentliche Thema des Bildes aufgetaucht wäre; die Bewegung kommt zu einer langen Fermate. Die erhobene Hand und der auf den Gekreuzigten gerichtete Blick könnten die Bewegung weiter und nun endgültig ins Zentrum lenken, wirken aber eigentümlich gehemmt. Zusätzlich dazu finden sich zwischen Kopf und Hand des Ritters die geschriebenen Worte «vere filius dei erat ille» (Wahrlich ein Sohn Gottes ist jener gewesen), die den Blick auf ganz andere Weise beschäftigen und die Kommentarfunktion bestätigen.

Wenn wir nun aber doch der durch Augen und Hand des Ritters vorgegebenen Linie folgen, kommen wir tatsächlich direkt zum zur Seite gebeugt hängenden Kopf Christi, der die Richtung der Linie aufgreift. Andererseits ist der Ritter so wenig Teil der Szene, dass die Bewegung auf eigentümliche Weise unplausibel erscheint und sich überdies nicht zur Frontalität des gekreuzigten Körpers aufrichten kann. Schließlich gleitet sie ab und wird auf den dunklen Hintergrund gelenkt. Jetzt erst kommen wir zu den von Sebald beschriebenen Hügeln, auf denen – zumindest nach Sebalds Interpretation – die kaum klar zu erkennende Szenerie der Vorgeschichte der Kreuzigung stattfindet. Der bisher eher flache Bildraum öffnet sich in die Tiefe, wobei sich Freys Feststellung bewährt, dass «[d]as räumlich Ferne […] zugleich ein zeitlich Fernes» [16] ist. Dabei liegt vor uns hier gerade nicht die Zukunft, und die «Flucht des Raumes», von der Sebald spricht, geht in die andere Richtung – nämlich zurück zur eigentlichen Szene des Bildes.

<<  Ausgabe 05 | Seite 156  >>