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Während Semantik üblicherweise fast selbstverständlich als Resultat sprachlich-diskursiver Genese von kulturell verfügbarem Sinn angenommen wird, erlaubt die Erweiterung der Relationierung von Sinnstrukturen um die Dimension der Medien zwischen sprachlich-textueller und visueller Semantik zu unterscheiden. Das Konzept der visuellen Semantik geht von der Annahme aus, dass «höherstufig generalisierter relativ situationsunabhängig verfügbarer Sinn», so eine der Bestimmungen für Semantik, nicht nur sprachlich, sondern auch bildlich für den Wiedergebrauch aufbewahrt wird. Die Gesamtheit der zur Sinnselektion verwendeten «Formen einer Gesellschaft (im Unterschied zur Gesamtheit der Sinn aktualisierenden Ereignisse des Erlebens und Handelns)» nennt Luhmann in einer weiteren Bestimmung «die Semantik einer Gesellschaft.» [2]

Den im Erleben und Handeln aktualisierten Formen der selektiven Sinnverarbeitung angesichts des Verweisungsüberschusses allen sinnhaften Operierens, fügen wir neben sprachlichen und den neuerlich erforschten numerischen Formen auch die Form der Bildlichkeit hinzu. Bildlichkeit verstehen wir als eine Form im Medium der Visualität, die nicht als Sehen oder Sichtbarkeit der Welt sondern als Resultat komplexer Mediationen der Welt aufgefasst wird. Die Versorgung der Gesellschaft mit historisch variierenden möglichen Themen, Vorräten von Unterscheidungen, differenzierten Sondersemantiken, Reflexionsthemen und Diskursformen geschieht – so unsere Annahme – nicht nur numerisch, begrifflich-diskursiv oder metaphorisch im Medium der Sprache, sondern parallel und in Kooperation mit Formen der Bildlichkeit im Medium der Visualität. [3]

Wie verhalten sich nun die drei Elemente Gesellschaftsstruktur – Semantik – Medien zueinander und wie instruiert die dreifache Differenz den Untersuchungsgegenstand? Luhmanns Studien zur Gesellschaftsstruktur und Semantik hatten vor allem Umbauten der primären Differenzierungsform der Gesellschaft sowie Gesamttransformationen des «semantischen Apparates der Kultur» im Blick. [4] Die Umstellung der gesellschaftlichen Differenzierung von Stratifikation auf Sachgesichtspunkte bedeutet die Übernahme der Bearbeitung gesamtgesellschaftlicher Probleme wie neues Wissen, Vorsorge für die Zukunft unter Bedingungen von Knappheit, Ordnungen im Bereich des Möglichen oder kollektiv bindende Entscheidungen durch gesellschaftliche Subsysteme. Gesellschaftliche Struktur meint zunächst Systemdifferenzierung, die in einer späteren Theoriefassung als Differenzierung der operativen Ebene des Gesellschaftssystems beschrieben wird. Der Umbau der Differenzierungsform wird aber zugleich als Ausdifferenzierung selbstreferentiell operierender Subsysteme und als semantische Ausdifferenzierung vorgeführt, mit der die Genese von übergreifenden Symbolkomplexen einhergeht.

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