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Derjenige, dessen Rücken das Hinten der Vergangenheit markiert, ist Christus selbst, und die sich überstürzende Zeit führt den Blick, der eben noch mit dem Entziffern der Vorgeschichte beschäftigt ist, über die wüste und leere Ebene dazwischen in einer crescendierenden Beschleunigung zurück zur Kreuzigung, die wie ein düster strahlender Schlussakkord den Abschluss bildet, den wir schließlich frontal im Blick haben. Von hier aus führt erst einmal kein weiterer Weg, weder nach unten ins Grab noch zur Seite in die Welt noch gar nach oben in den Himmel, und dieselben Figuren, die vorher die Bewegung getragen haben, sind jetzt Nebentöne in jenem Akkord. Dabei ist das Gesicht des toten Christus genau der Maria zugewandt, womit es eine schwache Verbindung gibt, die zurück zum Ausgangspunkt führt – aber erst, wenn man das so sagen kann, nach längerer Zeit, wenn die innere Zeit des Bildes bis zum Ende durchlaufen ist.

Es dürfte deutlich geworden sein, dass der Versuch einer Bildbetrachtung unter dem Gesichtspunkt des Rhythmus nicht auf eine Reduktion auf eine einzige Dimension hinausläuft, als wäre Rhythmus nichts als eine Folge von Schlägen oder könnte angemessen «im Sinne einer oder mehrerer aus der Klangfolge abstrahierten zeitlichen Strukturen» [17] beschrieben werden. Die brauchbaren musikalischen Rhythmustheorien weisen diese geläufige Reduktion zurück, so dass Rhythmus eher als Betrachtungsweise denn als isolierbare Dimension künstlerischer Gestaltungen aufgefasst werden muss. Ein wichtiges Moment aber wurde bisher weitgehend vernachlässigt: Als Vermittlung von Kontinuität und Diskontinuität hat ein rhythmisches Geschehen immer die Möglichkeit des Ab- oder Einbruchs oder, weniger drastisch ausgedrückt, des Wechsels. Um sie soll es im letzten Abschnitt gehen.

3.

Das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität wurde bisher nicht eigens thematisiert, auch wenn es gerade für eine Theorie musikalischer, aber auch bildlicher Rhythmen wichtig ist. Es kann hier nur im Hinblick auf die Frage ereignishafter Diskontinuität angerissen werden. Betrachtet man die Musik aus der Nähe, so erscheint sie als Folge diskontinuierlicher Einzelereignisse: Töne, Klänge, Schläge. Die tatsächliche akustische Kontinuität ist die Ausnahme, und die klangliche und zeitliche Diskretisierung in Einzeltöne ist das entscheidende Mittel zur Herstellung von Differenziertheit und Komplexität. Für die gegenseitige Absetzung von Linien, Farben und Figuren in der bildenden Kunst gilt im Prinzip das Gleiche. Auf der anderen Seite ist eine Form der Kontinuität notwendig, um diese Elemente zusammenzuhalten und nicht in ein bloßes Nach- und Nebeneinander auseinanderfallen zu lassen. Diese Kontinuität würde ich als gestisch beschreiben, denn ohne eine elementare Gestizität des (Nach- oder Mit-)Vollzugs zerfällt noch die einfachste rhythmische Figur in ein mechanisches Nacheinander. [18]

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