>>

Mit seinen multiplen, nichtlinearen Leseansätzen inspirierte Mallarmé die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts dazu, die Buchseite als einen Ort für die Kunst zu nutzen. Besonders sein utopistisches, spekulatives und nie fertiggestelltes Riesenprojekt Le Livre macht ihn zu einem wichtigen Vorläufer für alle, die das Buch als Architektur untersuchen. Mehr als dreissig Jahre lang arbeitete Mallarmé an der Konzeption eines «totalen Buches» (einschliesslich der räumlichen Dimensionen), das offenlegen sollte, wie alles in der Welt miteinander zusammenhängt – eine Idee, die heute in umstrittenen Digitalisierungsprojekten wie Google Books und Google Library widerhallt. [9]

Rund 80 Jahre später führte der Dichter, Künstler und Archivar von Künstlerbüchern Ulises Carrión die Ansichten Mallarmés bezüglich der Materialität der Seite in seinem Manifest «The New Art of Making Books» (1975) weiter. Mit anerkennender Zustimmung in Richtung der Konkreten Poesie unterschied Carrión – dem man übrigens die Prägung des Begriffes «Buchwerk» (bookwork) zuschreibt – deutlich zwischen dem «alten Buch», in dem alle Seiten gleichwertig sind, und dem «neuen Buch», das er nicht nur als eine «Sequenz der Räume und Momente» verstand, sondern auch als ein «Volumen im Raum». Wie bereits für Mallarmé lag auch für Carrión die Kraft des Buches – das er in seiner sequentiellen Temporalität mit dem Video, dem Film und dem Rhythmus allgemein verglich – in seiner Fähigkeit, «spezifische Lesebedingungen zu schaffen», womit er ein besonderes Augenmerk auf die Performativität subjektiver Erfahrungen wie das Berühren eines Buches oder das Umblättern seiner Seiten legte. [10]

Auch wenn Buch und Ausstellung nach wie vor in einem unterschiedlichen Verhältnis zu Begriffen wie öffentlich und privat oder Originalität und Distribution stehen, entwickelte Carrión in seinen Texten wichtige intellektuelle Denkinstrumente, um die beiden Medien miteinander zu verbinden. Das von Carrión beschriebene «neue Buch» wird zu einem Ort, der aktiv gestaltet werden muss, damit sich eine Idee nicht nur auf inhaltlicher sondern auch formaler Ebene übermittelt. Versteht man eine Ausstellung als die Organisation von Information in Raum und Zeit, mit ihrer physischen Wirkung als einer ihrer ästhetischen und kommunikativen Strategien, entsprechen dem die «neuen Bücher» sehr viel eher als die «alten Bücher». [11]

Das  erwähnte «Umblättern» verweist hierbei allerdings auf die Tatsache, dass Carrión selbst das Buch – und zwar alt wie neu – hauptsächlich mit dem modernen westlichen Standard des Kodex verband: einem gebundenen Buch, das im Gegensatz zur fortlaufenden Schriftrolle einen Vorder- und Rückumschlag besitzt.

<<  Ausgabe 05 | Seite 138  >>