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Damit kann der breite Zugang zum Internet 2.0 zwar als Brücke zwischen dem Bezichtigenden, der ohne «legitime politische Ressourcen» agiert und der Welt der Meinung fungieren; [26] wenn sich der Komplott jedoch nicht enthüllen lässt, müssen die Aussage und ihre Darstellung normalisiert werden, um Akzeptanz erzielen zu können. Dem wurde in dem hier untersuchten Narrativ insofern Folge geleistet, als zuletzt die Auflösung des Goldstandards als Bedingung zur Emergenz eines impersonalen Systems erklärt wird. Dies entspricht einem Normalverständnis der Kausalzusammenhänge [27] und nimmt dem Narrativ zugleich die Durchschlagskraft einer potentiell erfolgreichen Anprangerung. An der Stelle der ‹men behind the curtains›,  [28] die in den Foren prominent aufgenommen wurden, sind nun abstrakte Entitäten wie «the institution», «the system», «the human behavior» verantwortlich, die mit dem Begriff ‹Zeitgeist› gefasst werden:

Eine abstrakte, kollektive Entität, die einem sich wechselseitig ermöglichenden und beschränkenden Kausalzusammenhang entspricht, in dem die Unterscheidung von Opfer und Verfolger oszilliert. Der ‹Zeitgeist› wird als Ursache für Ungerechtigkeiten zwar bezichtigt, es lässt sich gegen solche Entitäten aber kaum ein Urteil fällen und durchsetzen. Nicht zuletzt sperren sich abstrakte Entitäten wie Systeme gegen ihre Erfahrbarkeit, was nach Boltanski ein Faktor in der zunehmenden Realitätsunsicherheit ist.

Dieselbe Problematik hält Boltanski für die Soziologie und die wissenschaftliche Ermittlungsweise von Kausalitätszusammenhängen fest. Die Disziplin sieht sich indes selbst als ‹soziologische Verschwörungstheorie› betitelt: [29] Zur Erklärung von Ereignissen und sozialem Wandel werden soziologisch kollektive Entitäten eingeführt – der Markt, das System – auf die in der Analyse kaum Bezug genommen werden kann, ohne sie als Subjekt von Aktionsverben zu platzieren, wodurch ihnen implizit ein Wille attribuiert wird.

Karl Popper kritisierte diese Vorgehensweise als «naiven Kollektivismus» der Sozialwissenschaften, die sich als Untersuchungsobjekt das «Verhalten sozialer Totalitäten» gibt, wobei eine so geartete Intentionalität wissenschaftlich nicht vertretbar sei und deshalb als Verschwörungstheorie erkannt werden müsse. [30] Was Popper vermeiden wollte, ist nach Boltanski die Erklärung von Ungerechtigkeiten durch abstrakte Entitäten, wie es zuletzt im ZEITGEIST-Narrativ der Fall ist. Auf diese Weise gehen ihnen Ereignis, Verfolger und Aufmerksamkeitsgenerierung einer Anprangerung verloren. Demgegenüber kann sich ironischerweise, wie Boltanski selbstkritisch an seinem Buch Le nouvel esprit du capitalisme aufzeigt, die zeitgenössische soziologische Erklärung des Ökonomischen der Popper’schen Unterstellung einer paranoiden Verschwörungswissenschaft kaum entziehen. [31]

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