>>

Auch für Haeckel spielte Visualisierung eine zentrale Rolle. In seiner Erkenntnistheorie propagierte er ein Primat des Sehens, das er mit dem Erkennen gleichsetzte. Naturanalyse war ihm «eine Anschauungslehre im Sinne einer Demonstration des in der Natur Möglichen». [34] Für sein Buch über die Kristallseelen übernahm er zahlreiche Bilder Lehmanns. So positionierte er gleich als erstes Bild gegenüber der Titelseite eine Farbtafel mit Abbildungen flüssiger Kristalle (Abb. 5), und im Text finden sich sowohl Mikrofotografien als auch schematische Zeichnungen, die dazu dienen sollten, die Lebendigkeit der flüssigen Kristalle evident zu machen.

Für Haeckel war die Existenz flüssiger Kristalle ein weiterer Beweis für seine monistische Philosophie, derzufolge Begriffspaare wie Materie und Energie, anorganisch und organisch, Körper und Seele nur scheinbar Dualismen bezeichnen, in Wirklichkeit aber auf ein einziges Prinzip, nämlich die ewigen und unveränderlichen Naturgesetze, rückführbar seien. Die flüssigen Kristalle standen damit in einer neuen Konstellation: nicht mehr um den Streit zwischen vitalistischen und mechanistischen Forschungsprogrammen ging es, sondern um weitreichende weltanschauliche Fragen, die das Verhältnis von Wissenschaft und Religion betrafen. Denn mit den Kristallen als Lebensformen stand die Theorie der Urzeugung zur Disposition, eine Theorie, die sich explizit gegen die religiöse Annahme eines Schöpfergottes richtete. Es ist kein Wunder, dass der Jesuit Erich Wasmann eine Analogie zwischen flüssigen Kristallen und Lebewesen kritisierte und die Ähnlichkeit als eine «rein äußere» bezeichnete. [35] Die monistische Aneignung der flüssigen Kristalle veränderte deren Status entscheidend. Sie waren nun nicht länger Modelle des Lebendigen, sondern selbst lebendige Entitäten. Ihre Existenz diente damit als Argument für eine Weltanschauung, nicht für ein Forschungs- und Erklärungsprogramm.

Als Modell im Sinne Lehmanns diente der Vergleich zwischen Kristall und Lebewesen lediglich als «Denkschema». [36] Damit konnten erstens essentialistische Definitionen des Lebens unterlaufen und kritisiert werden. Zweitens konnte man damit vitalistische Behauptungen über die Irreduzibilität von Lebensvorgängen auf mechanische Prozesse zurückweisen und die Möglichkeit eines ‹alternativen› mechanistischen Forschungsprogramms postulieren. Entgegen dem traditionellen Vorwurf, dass sich Maschinen nicht fortpflanzen und regenerieren können, zeigten die flüssigen Kristalle, dass es doch Maschinen gab, bei denen aus einem beliebigen Teil das Ganze wiederhergestellt werden kann.

<<  Ausgabe 02 | Seite 126  >>