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Wurde der Vergleich jedoch hypostasiert und die Kristalle auf einer Ebene mit Lebewesen behandelt, wie bei Haeckel, dann lieferten sie keine Antworten mehr, sondern warfen lediglich Fragen auf. Das konnte zu einer neuen Mystifizierung der Kristalle führen: «Durch den Vergleich mit dem Kristall [...] wird das Lebensrätsel keineswegs gelöst, sondern in seiner ganzen Unergründlichkeit an den Anfang alles Seins verschoben und die Frage nach seiner Entstehung in das volle Licht ihrer Müßigkeit gerückt.» [37] Der Autor dieses Satzes, der Chemiker Alwin Schleicher, meinte das durchaus positiv – schliesslich grenzte er sich vom «Materialismus» ab und vertrat im Sinne des Monismus eine Allbelebung der Natur, wo sich eben die Frage nach der ersten Entstehung des Lebens gar nicht mehr stellt. Eine solche Rezeption der flüssigen Kristalle liesse sich noch durch andere Bereiche verfolgen, etwa den der Literatur, der Kunst und Architektur, aber auch der Esoterik. Wichtig ist, dass damit aus den «scheinbar lebenden» Kristallen mit einem Mal «wirklich lebende» Kristalle geworden waren. [38] Die Visualisierungsstrategie Lehmanns war hier gewissermassen zu erfolgreich gewesen: die Bilder erzeugten dermassen evidente Lebendigkeitseffekte, dass die Betrachter den Weg zurück zum Modell nicht mehr fanden (oder nicht mehr finden wollten).

Man könnte hier argumentieren, dass sich dieser Effekt der Logik des Bildlichen selbst verdanke. Folgt man einer Strömung der zeitgenössischen Bildtheorie, können Bilder nicht anders, als «dem Dargestellten eine Präsenz zu verschaffen» [39]. Da sie gemäss der Struktur der Evidenz funktionieren, können sie nicht Negieren, sondern setzen stets eine Existenzbehauptung. Und gewiss: Lehmanns Visualisierungsstrategie bediente sich dieser performativen Seite des Visuellen, insofern sie alles daran setzte, die Lebendigkeit der Kristalle zu inszenieren. Das Gelingen dieser Inszenierung hing jedoch nicht nur vom Visuellen ab. Sie war ebenso von den medialen Bedingungen, zum Beispiel der Technik des Films, wie von den spezifischen Bedeutungsfeldern abhängig, auf die Lehmann – auch und gerade durch die Wahl seiner Medien – verwies. Die Performativität war also auch ein Ergebnis der spezifischen Architektur seines Verweissystems. Dieses hatte aber gleichzeitig auch die Funktion, die Existenzbehauptung wieder zu modalisieren, um das «Als Ob» des Lebendigkeitseffekts hervorzuheben.

Auf der anderen Seite blendete Haeckel den erkenntnistheoretischen Rahmen, in dem Lehmann seine Bilder platziert hatte und der diese erst zu Bildern von Modellen machte, nicht einfach nur aus. Er versetzte die Bilder vielmehr in einen neuen Verweiszusammenhang, der den flüssigen Kristallen einen Platz in der Ordnung der Natur selbst zuwies.

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