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Lehmanns «scheinbar lebende Kristalle»

Lehmann verlieh den Kristallmodellen den Status lebhafter Objekte, indem er ihre Lebensähnlichkeit in Szene setzte. Mit Bruno Latour kann man hier von «Prüfungen» sprechen, denen die Kristalle unterzogen wurden. [8] Die Versuche entlockten den Kristallen spezifische Performanzen, die ihnen schliesslich als Eigenschaften zugeschrieben werden konnten: etwa die der Teilung, der Reproduktion, der Regeneration usw. Listen solcher Eigenschaften dienten den mechanistischen Forschern dazu, die Ähnlichkeit zwischen Kristallen und Organismen herauszustellen und damit der Argumentation der Vitalisten zu begegnen. Indem man zeigte, dass scheinbar nur dem Lebendigen zukommende Fähigkeiten auch bei Kristallen gefunden werden konnten, bestritt man die vitalistische Prämisse, dass das Leben durch eine Eigengesetzlichkeit ausgezeichnet sei, die sich nicht auf die Gesetze der Physik oder Chemie zurückführen liesse.

Damit Kristalle als eigenständige Entitäten in Erscheinung treten konnten, denen spezifische Kompetenzen eigneten, die nicht auf die Fertigkeiten und Manipulationen der Experimentatoren reduzierbar waren, mobilisierte man Strategien der Überzeugung, Plausibilisierung und Beglaubigung. Bei solchen Demonstrationen spielt die visuelle Dimension eine entscheidende Rolle. Sagen und Zeigen werden durch ein Verweissystem verbunden, um eine Tatsache zu stabilisieren und eine Sichtweise zu etablieren. [9]

Im Fall der Kristallmodelle ergab sich jedoch eine besondere Schwierigkeit. Anders als bei den von Latour behandelten Beispielen, etwa dem Milchsäureferment Louis Pasteurs, ging es hier gerade nicht darum, dem Objekt den ontologischen Status eines Lebewesens zu verleihen. Um als Modell dienen zu können, durfte der Kristall selbst gerade kein weiteres Element aus der Menge der Lebewesen sein. Wäre er als Lebewesen klassifiziert, liesse sich mit ihm nichts erklären. Man hätte damit, wie der Biologe Otto Bütschli einmal feststellte, lediglich ein weiteres Lebewesen, dessen Erklärung ebenso problematisch bliebe wie jene der bereits bekannten anderen. [10] Ein Modell dürfe niemals denselben ontologischen Status wie das erhalten, das es erklären will; andernfalls wäre die Welt bloss um ein Rätsel reicher. Lehmann, der sich dieser Problematik bewusst war, vertrat eine pragmatische Theorie der Modellbildung, die in der Tradition der britischen Physik des 19. Jahrhunderts stand und die um die Jahrhundertwende in der Philosophie Hans Vaihingers ihren populärsten Ausdruck fand.

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