Fleck, Entstehung und Entwicklung (Anm. 16), S. 124.
Denkstil, Soziotechnik und Widerstandsaviso in der gegenwärtigen Neuroculture
Das wissenschaftlich Sichtbare ist als sichtbar Gemachtes immer schon geformt und herausgehoben, auch wo es vorerst noch umstritten bleibt. Strategien der Sichtbarmachung bestimmen das wissenschaftlich Denkbare, gerade weil sie unausdenkbar viele Alternativen ausschließen. Sie sind Ausdruck eines bestimmten Denkstils, wie Ludwik Fleck im Rekurs auf Gestaltpsychologie und Kunstgeschichte bereits 1935 argumentierte. [16] Wie bei einem Gemälde der Stil nicht etwas dem Bild hinzufügt, sondern dessen Verfasstheit kennzeichnet, lassen sich auch wissenschaftliche Theorien nicht von dem Denkstil, der sie hervorgebracht hat ablösen.
Fleck begreift dabei einen Denkstil wesentlich als kollektive Praxis von Wahrnehmung und Wirklichkeitszurichtung, die ebenso entscheidet, wie etwas repräsentiert wird, wie darüber, was überhaupt sichtbar, denkbar und somit wissenschaftlich bearbeitbar wird. Erst im Denkstil der funktionellen Bildgebung sind in den vergangenen Jahren die Phänomene der Social Neurosciences als «soziotechnische Evidenzen» konstituiert worden. [17] Bei ihnen handelt es sich in strengem Sinne nicht um Abbilder, sondern um Visualisierungen von etwas, das unabhängig von den modernen Bildtechniken visuell gar nicht existiert, so real die damit angezeigten Hirnfunktionen auch sein mögen.
Der Werbespruch des Siemens-Posters beschreibt deshalb präzise diese Bildtechnik: Mittels kaskadenförmig ineinander greifender Interventionen konstituiert sie überhaupt erst, was sie abbildet. Es handelt sich um ein Verfahren, dafür Sorge zu tragen, dass «die Dinge so kommen». Deswegen bedarf es überhaupt erst einer Sorge um die Sache, weil sich die gesuchten Ergebnisse trotz aller Artifizialität der Konstruktionsverfahren gleichwohl nicht erfinden lassen. Erst die Konstruktionsanstrengungen lassen überhaupt Gegenstände wissenschaftlicher Forschung hervortreten im Sinne einer produktiven Spannung zwischen einer Resistenz der Dinge und den Bemühungen wissenschaftlicher Akteure. Für diese Spannung hat Fleck den Begriff des Widerstandsavisos gefunden: Am Widerstand gegen Zurichtung tritt eine zunächst anonyme Materialität hervor, die im Prozess weiterer Zurichtungen zur geformten, sichtbaren Tatsache werden kann. [18]
Der Werbetext schlägt mit seiner Rede vom Ding, von der Sorge und mit dem quasi als Quellenangabe eingeschobenen «[Sagt man]» allerdings ein anderes philosophisches Verweisungsregister an, das ebenfalls auf das Jahr 1935 verweist: die Sprache Martin Heideggers im Aufsatz zum Ursprung des Kunstwerks, wo er ebenfalls die vermeintliche Natürlichkeit der Dinge hinterfragt: