Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, in: Ders., Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, S. 1-72, hier S. 8f.
«Was uns natürlich vorkommt, ist vermutlich nur das Gewöhnliche einer langen Gewohnheit. [...] Läßt sich ein [solches Verstellen der Natürlichkeit durch Gewohnheit] vermeiden und wie? Wohl nur so, daß wir dem Ding gleichsam ein freies Feld gewähren, damit es sein Dinghaftes unmittelbar zeige.» [19]
In Heideggers Formulierung des Gewährenlassens und der damit angebahnten Neu- bzw. Rückbestimmung von Wahrheit als Unverborgenheit scheint – im Kontrast zu Flecks Widerstandsaviso – vor allem ein Aspekt von Passivität hervorgehoben zu sein. Aber ebenso wichtig ist Heidegger die Abgrenzung gegen eine reine Rezeptivität der Sinnlichkeit, die ein bloßes «Abschildern» der Wirklichkeit wäre. Zwar sieht Heidegger, anders als Fleck, das Zurichten primär im alltäglichen Verwertungszusammenhang instrumenteller Rationalität, die immer schon die Wahrheit des Seins der Dinge verfehlt, aber gleichwohl bedarf das Erscheinenlassen der Wahrheit auch bei ihm eines aktiven Stellens.
Noch in der unterschiedlichen Akzentuierung dieser Spannung von Aktivität und Passivität berühren sich also Fleck und Heidegger quasi als Antipoden. Außerdem teilen sie die kritische Ansicht, dass die manifesten Erfolge bei der technisch-instrumentellen Zurichtung von Welt mehr über die Wirkmacht der benutzten Kräfte als über die Natürlichkeit der damit bearbeiteten Dinge sagen. Nicht erst das Zerstörungspotential moderner Kriegstechnik, bereits die Zurichtung menschlicher Erfahrung in medialen Wirklichkeiten markierten nach dem ersten Weltkrieg die Wendepunkte eines Denkens, dem die selbstverständliche Gegebenheit und Gegenständlichkeit der Welt abhanden gekommen war. Und an diesem Punkt liefert jener dritte Text aus derselben Zeit das passende Verbindungsstück zur Dynamik von Technik und Wirklichkeit, das zugleich auch vorausweist auf die Dynamik heutiger Medientechniken, Walter Benjamins Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.
Das Gehirn im Zeitalter seiner technischen Visualisierbarkeit
Im Unterschied zu Benjamins berühmter These im Kunstwerk-Aufsatz, dass technische Medien Aura zerstören, scheinen die aktuellen Hirnbilder eher Anlass zur gegenteiligen Vermutung zu geben, inszenieren sie doch das Gehirn in einer Weise, die man im Rückgriff auf ein umgangssprachliches Aura-Verständnis regelrecht als Auratisierung bezeichnen könnte: Wenn heute mehr und mehr künstliche Bildtechniken als immer bessere Einblicke in eine bis dahin unsichtbare oder unzugängliche Wirklichkeit gefeiert werden, dokumentiert das eine biotechnische Ökonomisierung von Aura im Modus technischer Reproduzierbarkeit, und die Diagnose einer Re-Auratisierung wissenschaftlicher Bilder in der Hirnforschung demaskiert also wie die Neoliberalisierung längst auch das System Wissenschaft durchdrungen hat.