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Die Kunst der Entschleunigung

Neurowissenschaften und Neue Medien sind mittlerweile zu einem Verbund verschmolzen, der als Bildgenerator und Bildbearbeitungsmaschine nicht nur faszinierende Bildwelten erschafft, sondern buchstäblich als jener kollektive Innervationsapparat operiert, auf den Benjamin spekuliert hatte. Parallel zur kollektiven Erprobung vernetzter Intelligenz, die vom Cloud Computing bis zu neuen politischen Interventionsformen «von unten» unverhofft vielfältige Effekte erzeugt, feiern und inszenieren die Social Neurosciences heute eine kollektivierte Hirntheorie, mit der sie Erleben und Verhalten in sozialen Kontexten zu ihrem Gegenstand erheben, mit Techniken der Bildgebung somatisch fundieren und diese Kategorien des Sozialen dann als Erklärungsmodell in die Gesellschaft einspielen.

Damit läuft der Vorwurf wissenschaftlichen Voodoos nicht etwa ins Leere falscher Anklagen, sondern wird vielmehr selbst noch zum Ausdruck antiquierter Vorstellungen einer Beherrschbarkeit heraufbeschworener Geister. Rund 150 Jahre nachdem Edward Tyler magisches Denken als Animismus stigmatisierte, wäre heute angesichts der realen Effekte virtueller Welten keine reduktionistische oder rationalistische Bilderstürmerei gefordert, sondern vielmehr, was man einen depotenzierenden Umgang mit Hirnbildern nennen könnte – ihre Mobilisierung nicht für finale Aufklärungsprojekte im Prokrustesbett eines neurophysiologischen oder neurogenetischen Determinismus, sondern für weitere, neue Umwege und Verzögerungen bei der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über wissenschaftliche  Bilderwelten – z.B. im Anschluss an Wilsons Installation. Will eine Bildtheorie der Neurowissenschaften nicht nur deren Genese kritisch in Frage stellen, sondern ihre Dynamik auf innovative Wege lenken, muss sie explorieren, wie Bildern auch ein Entschleunigungspotential eignen kann, das deren Effekte nicht still stellt, sondern im Spielerischen und Symptomatischen neue Umwege beschreitet und so nach einem Widerstandsaviso Ausschau hält.

* Der Text, der für diese Veröffentlichung grundlegend überarbeitet und modifiziert wurde, geht zurück auf meinen Aufsatz «Ikonen des Geistes und Voodoo mit Wissenschaft: Zur Bilddynamik in der Hirnforschung», in: Philipp Stoellger (Hg.), Präsenz und Entzug: Zur ikonischen Performanz, Tübingen 2011, S. 437-464. Ich danke Thomas Brandstetter, Johannes Bruder und David Keller sowie die Teilnehmer am Bilderstreit-Kolloquium für Kritik und Anregungen.

Cornelius Borck ist Direktor des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung der Universität zu Lübeck. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Zeitgeschichte der Medizin und Hirnforschung zwischen Medientechnik und Neurophilosophie. 

<<  Ausgabe 04 | Seite 84