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Im wissenschaftlichen Betrieb schälten sich im Für-und-Wider der Befunde passager stabile Ansichten heraus, deren Gültigkeit solange bestehe, bis sie von neuen Ansichten verdrängt würden und womit im Namen der Debatte um die Wahrheit diese zugleich immer aufgeschoben bleibe, während im Leben oft gehandelt werden müsse, ohne dass die Wahrheit gefunden oder auch nur Einigkeit erzielt worden sei.

Aber wenn im Streitfall nicht nur einzelne Aussagen, sondern ganze Arbeitszweige und Forschungsmethoden in Frage stehen, gerät Wissenschaft offenbar unter Handlungszwang, und sämtliche Mittel einer Beschleunigung der Debatte scheinen geboten, um so rasch wie möglich die emsige Ruhe im Betrieb wiederherzustellen. In Frage stehen dann nämlich nicht mehr die Aussagen einzelner Experimente oder Forschungszweige, sondern die Zulässigkeit und Gültigkeit der Verfahrensregeln dieser Forschungsrichtung insgesamt. Und wenn man Daniel Margulies Glauben schenken darf, befürchteten einige der in die Kritik geratenen Akteure durchaus ein Versiegen der üppigen Fördermittel oder gar die Rücknahme bereits bewilligter Zusagen, falls die Vorwürfe zum Verdacht eines Verstoßes gegen die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis gerieten.

Dass es nicht so weit kam, lag wesentlich daran, dass es den beteiligten Wissenschaftlern gelang, den scheinbaren Handlungszwang pro oder contra Social Neurosciences zum Diskurs über deren Vorgehensweise zu wenden. Wissenschaft ließ sich auf jene Umwege und Verzögerungen einer öffentlichen Erörterung ein, die Blumenberg im selben Aufsatz als anthropologischen Sonderweg identifiziert und als humanistischen proklamiert hatte. Die Neurowissenschaften entdeckten in diesem Prozess regelrecht ihr eigenes Potential für Umwege und den nützlichen Überschuss sinnloser Experimente: Beim nächsten Treffen der Imaging-Community wurde eine Poster präsentiert, dass das Gewicht der von Vul vorgebrachten Kritik dadurch scheinbar ernstnahm, dass es die Zweifelhaftigkeit der gängigen Verfahrensweise an einem toten Lachs demonstrierte, so als könne die Bildgebung ihre bunten Flecken einer Hirnaktivierung erzeugen wo und wann sie wolle. [5] – Kongresspräsident Rainer Göbel griff bei der Abschlussveranstaltung prompt dieses Poster als Tagungshighlight auf und machte es dadurch zum ebenso ironischen wie selbstbewussten offiziellen Statement der Akteure. [6]

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