Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind,
wirklich interessiert? (Max Frisch) [1]
In einem dunklen, langgestreckten Raum hängt mittig eine Projektionsleinwand, auf der in ruhigem Rhythmus Dias in einander überblenden. Die Sequenz von 116 Bildern, deren Farbigkeit und Motive von der distinkten Ästhetik der 1970er-Jahre durchwirkt ist, scheint aus allen Bereichen des Lebens gegriffen. Sie setzt ein mit numerischen Formeln, Masstabellen und Gleichungen, um sich durch Aufnahmen des Kosmos und der Planeten der Erde zu nähern. Ein Sprung führt in den Mikrokosmos der Zellteilung, zu schematischen DNA-Strängen, Embryonen und anatomischen Darstellungen, um dann in die sozialen Gefüge des menschlichen Lebens überzuleiten. Fotografien von Landschaften, Flora und Fauna, Menschen unterschiedlicher Kulturen bei diversen Aktivitäten reihen sich an Ansichten von Verkehr, Technik und Industrie. Am Ende erscheint ein rotgetränkter Sonnenuntergang und – gleichsam stellvertretend für Kultur – ein Musikquartett und als Schlussbild eine Violine mit Partitur.
Gleichgültig, zu welchem Zeitpunkt des Loops man die Installation betritt, man wird in den Sog dieser Bilder gezogen, im Versuch, einen narrativen Nexus herauszulesen, und es drängt sich die Frage nach dem Kontext, Hintergrund und der Absicht dieser offensichtlich ursprünglich kunstfremden Sequenz auf.
Die einleitende Tabelle, welche das westliche Zahlensystem und die Masseinheiten auflistet, didaktische Bildfolgen (etwa Weinbauer im Rebberg / Konsumentin kauft im Supermarkt Trauben) sowie Inskriptionen direkt im Bild sollen offenbar den Informationsgehalt zusätzlich unterstützen. So sind beispielsweise in einer Satellitenaufnahme der Erdkugel die prozentualen Gasbestandteile der Atmosphäre verzeichnet. Diesem tour d'horizon der sichtbaren Welt scheint also eine Aufforderung inhärent, das Gesehene zu entschlüsseln und zu verstehen.
Steve McQueens digitalisierte Dia-Installation Once Upon a Time (2002) ist die Aneignung eines offiziellen Bilderkonvoluts, das ein Forschungsteam der NASA, unter der Leitung von Dr. Carl Sagan [2] 1977 für die Space Shuttle Voyager I und II zusammenstellte, um sie eingraviert auf einer goldbeschichteten Schallplatte, der sogenannten Golden Record, ins All zu senden.
Das utopische Projekt verfolgte die Absicht, ein audiovisuelles Paket über das Dasein auf Erden an potentiell intelligente Lebensformen im All zu senden. Die Golden Record weist aber auch mehrere signifikante Leerstellen auf, denn auf dem ‹offiziellen Gesicht der Erde› war weder Kunst vertreten, noch waren Krieg, Krankheit, Armut und Naturkatastrophen zugelassen. Nebst den Bildern waren Grussworte in 55 Sprachen, diverse Naturgeräusche und mehrere klassische Stücke und Musik unterschiedlicher kultureller Herkunft auf dem Datenträger zu finden.
Steve McQueens 70-minütige Projektion wird hingegen begleitet von einer dominanten Tonspur von rezitierenden Männer- und Frauenstimmen. Der in unterschiedlichen Intensitäten, Lautstärken und scheinbar diversen Sprachformen vorgetragene Redeschwall ist tatsächlich nur sprachähnlich. Es sind sinnfreie Lauthülsen von tranceartigem Sprechen, der sogenannten Glossolalie. Diese originalen, historischen Aufnahmen von ‹zungenredenden› [3] Menschen bilden einen unverständlichen Sprachteppich, der im Kontrast dazu die Bildfolge fast verständlich scheinen lässt. Mit dem hinzugefügten kryptischen Soundtrack wird die Frage nach dem Verstehen an sich gestellt, nach der Möglichkeit, überhaupt zu kommunizieren und menschliche Codes entschlüsseln zu können.
Diese Tonbeispiele eines unkontrollierten und unbewussten sprachlichen Mitteilungsbedürfnisses stehen im Gegensatz zur bewussten, zensierten Bildauswahl, die dem menschlichen Bedürfnis entsprechen, eine Spur zu hinterlassen: «a sort of psychological black box that provides evidence of our attempt to manage images and deny death». [4]
Die Paradoxie der Bildauswahl auf der Golden Record und der Anspruch an das Bild, der von diesem Projekt ausgeht, wird vielleicht gerade durch die Tonspur von Once Upon a Time augenfällig, welche nur vorgibt, bedeutsam zu sein und das Bilderkonvolut als Fassade enthüllt: «Just as the images can be seen to be a representational facade of sorts, it would appear that these voices are also a facade of meaning – a vessel, not unlike Voyager, for the transmission of ambivalent and paradoxical material.» [5] Die Fremdheit der Bilder und historische Distanz zu deren Entstehungszeit wird nur noch verstärkt durch die tatsächliche geografische Ferne. Die beiden Voyager sind die von der Erde bzw. dem Sonnensystem am weitesten entfernten menschgemachten Objekte (im März 2012 waren Voyager I 17.9 Milliarden Kilometer und Voyager II 14.7 Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt).
Die Absurdität, sich selbst abbilden zu wollen, nicht als Individuum, sondern die Gesamtheit der Erdbewohner, resultiert gezwungenermassen in einem verzerrten Selbstportrait. Die Golden Record verrät neben einem heute kaum mehr nachvollziehbaren Glauben an solche utopischen Projekte und holistische, anthropozentrische Vorstellungen auch ein unerschüttertes Verhältnis zum (fotografischen) Bild und dem Vertrauen auf dessen Fähigkeit zur absoluten Repräsentation. Auch scheinen moderne Sehgewohnheiten Voraussetzung für die Entschlüsselung der Golden Record zu sein: So unbekannt und unvorstellbar die potentiellen Empfänger im All für das Forschungsteam gewesen sein mögen, die Wahl der Medien zeugt von unausgesprochenen Prämissen: Die Adressaten wurde als menschenähnlich (zumindest mit Augen und Ohren ausgestattet), als Leser und Betrachter imaginiert.
Es wurde denn auch berechtigterweise bemerkt, dass die Auswahl weniger für die Aussenwirkung bestimmt war, als für die Rezeption auf der Erde: «a calming lullaby […] designed to make us feel better about life on our planet». [6] In seiner Installation bringt Steve McQueen dieses Artefakt – das mittlerweile auch auf der NASA Website beinahe vollständig zugänglich gemacht wurde [7] – wieder zurück zu den janusköpfigen menschlichen Absendern/Empfängern.
Mit Sicht auf Steve McQueens Oeuvre im Allgemeinen tritt in Once Upon a Time nebst der Frage nach dem Verstehen und der (Un)Möglichkeit von Kommunikation das Abwesende und Ausgeschlossene ebenfalls in den Vordergrund. Tatsächlich, stellt T. J. Demos fest, liege ein wesentlicher Schlüssel zum Werk Steve McQueens in einem generellen Widerstand gegenüber dem Zugriff der Repräsentation, der sich auch als «the flickering presence of absence» [8] fassen liesse.
Was Demos für die in einer südafrikanischen Goldmine gefilmte Arbeit Western Deep (2002) aus demselben Jahr feststellt, [9] kann in gleichem Masse für die Übernahme der selektiven Bildfolge in Once Upon a Time gelten: Bezeichnend ist darin, was nicht gezeigt wird. Die Spannung zwischen der Repräsentation und die Auslotung ihrer Grenzen erreicht Steve McQueen bereits in seinen frühen Schwarzweissfilmen mit experimenteller Kameraführung und -position, Schnitten und Montagen. In seinen späteren narrativen, längeren Filmarbeiten geht dieser Widerstand vom Motiv selbst aus – sei es die Finsternis einer Goldmine, hunderte Meter unter Tage, oder wie in Once Upon a Time, ein Bildprojekt mit dem unerfüllbaren Anspruch ‹alles› zu zeigen.
Wenn Steve McQueen in seinen Arbeiten wiederholt die «limitations of the camera's power to represent» [10] untersucht, geht damit auch eine Verunsicherung und eine Verwischung zwischen Realem und Fiktionalem einher.
In der Verbindung einer wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit mit der fantastischen Golden Record fliessen Fantasie und Realität ineinander über. Auch im märchenhaften Titel von Steve McQueens Installation klingt im «Es war einmal...» der sagenhafte Gehalt an. Das Projekt verkörpert auf überdeutliche Weise das Scheitern der Repräsentation. Als künstlerische Übernahme der Golden Record gliedert sich somit Once Upon a Time in Steve McQueens bildkritische Praxis ein.
Als erstaunliche Wiederkehr einer für das All bestimmen Bilderwahl könnte das jüngst vom US-Amerikanischen Künstler Trevor Paglen entwickelte Projekt The Last Pictures (2012) gelten. [11] Paglens Auswahl von 100 Bildern wurde auf eine Silikondisk in Goldhülle gespeichert (äusserlich der Platte der 1970er-Jahre verblüffend ähnlich) und mit einem Fernsehsatelliten in den Orbit gesendet, um in Erdumlaufbahn zu bleiben, bis das Leben auf Erden erlischt.
Für einen potentiellen zukünftigen Finder soll aus den kontextlosen Bildern hervorgehen, warum die menschliche Zivilisation durch Umweltverschmutzung, Krieg und Ungerechtigkeiten ihre eigene Auslöschung verursachte.
Die mit ‹Sphärenmusik› unterlegten Aussagen des Künstlers, der MIT-Forscher und Projektorganisatoren im Making-Off-Video von The Last Pictures mischen sich ironischerweise zu einer kuriosen utopisch-technophilen Doppelung des NASA-Projekts, obwohl sich Paglen mit seiner, wie er betont persönlichen Auswahl, vom universalen Anspruch der Golden Record distanziert. [12] Trotz Paglens Reflexion über die Verständlichkeit dieser Bilder und seiner Skepsis gegenüber dem Erfolg des Projekts, irritiert die Ernsthaftigkeit, mit der es vorgestellt und umgesetzt wurde.
Denn indem Paglen diese Auswahl über Jahre hinweg mit Experten herausarbeitete und als Ergänzung zu den Lücken der Golden Record konzipierte, wird der Anspruch auf Vollständigkeit und der Glaube an das Bild wieder affirmiert – trotz aller eingestandenen Relativierungen.
Das Projekt The Last Pictures steht vielleicht aber als Konsequenz zu Paglens hochspezialisierten Auseinandersetzung mit Systemen der Überwachung, Geheimhaltung und Unsichtbarmachung.
Der grösste Teil von Paglens Arbeit mit Fotografie weist nämlich eine hohe Sensibilität für die Fragen der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit auf. In Untitled (Drones) (2010) oder Limit Telephotography (2012) fotografierte er mit astrologischen Teleobjektiven geheime militärischen Aktionen, Manöver und Stützpunkte der US-Amerikanischen Armee und bringt so das Verbotene und Versteckte des Militärs für den zivilen Betrachter ins Bild. Bei den verschwommenen, stark vergrösserten Fotografien geht der Bildinhalt mehr durch die Legende denn durch das Abgebildete hervor. Das Gegenstück zur offiziell zugelassenen sichtbar gemachten Welt erfüllt Paglen ja eigentlich in einer viel wuchtigeren Weise mit diesem politischen Aktivismus in Bildform als mit The Last Pictures.
In den zeitgenössischen Auseinandersetzungen beider Künstler mit diesen Bildern der Vergangenheit wird gewissermassen das Desiderat nach einer Bildkritik verarbeitet.
In Anbetracht des Zeitpunkts der Entstehung der Golden Record, 1977, wirkt das damalige unkritische Verhältnis gegenüber dem Bild und der Fotografie tatsächlich eklatant. [13] 1977 war das Jahr von Douglas Crimps folgereicher Ausstellung Pictures, die im Artists Space Künstler vereinigte, die eine skeptische Position gegenüber dem fotografischen Bild einnahmen.
Gemäss Crimps dazu entwickelter Bildtheorie könne dem postmodernen fotografischen Bild keine zugrundeliegende Realität mehr zugeordnet werden. Hinter dem Bild liege nur noch ein weiteres Bild. [14] Diese Leere oder Absenz einer greifbaren, realen Referenz wird bei beiden Projekten von Steve McQueen wie auch von Trevor Paglen thematisiert.
Paglens Projekt gesteht die fragile Verbindung von Abbild und Realität ein, ohne aber den Strang ganz zu durchtrennen. Steve McQueens Once Upon a Time führt ganz im Sinne der Pictures-Generation Störungen ins Bild und deckt die Unmöglichkeit eines greifbaren Originals auf. Wie schon die Worthülsen der Glossolalie sind auch die Bilder nur Fassade, die keine Entsprechung in der Realität finden.
Nicht zuletzt ist dies in der Installation räumlich erlebbar, wenn man um die freihängende Leinwand herum schreitet und die Bilder gespiegelt von hinten betrachtet, wo nichts zu finden ist, nur wiederum Bilder.
Claire Hoffmann