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Wenn es in der zitierten Passage des Mythos vom Sonnenauge vom Greifen heisst, er habe einen Schwanz in Gestalt einer Schlange, dann macht sich hier wohl ebenfalls die Verschränkung mit Tutu bemerkbar, denn eigentlich finden wir keinen Greifen mit Schlangeschwanz, wohl aber ist das ein ikonographisches Merkmal bei der Wiedergabe von Tutu.

Von der Mirabiliengeschichte zum Sinnbild der Nemesis

Die Greifendarstellung im Papyrus Artemidorus kann im Lichte der hellenistischen Mirabiliengeschichten über Tiere gedeutet werden. Sie ist eine zeichnerische Vorwegnahme des späteren Zeugnisses von Timotheus von Gaza. Ihre ganze narrative Kraft entfaltet die Zeichnung aber erst, wenn sie im Hinblick aud die (spät)ägyptischen Quellen gelesen wird.

Vor diesem Hintergrund wird die Zeichnung geradezu zu einer Vignette für die philosophisch-moralisch aufgeladene Tieranekdote aus dem Mythos vom Sonnenauge und dient als Sinnbild für die dort ausgedrückte Vorstellung von dem göttlich determinierten Schicksal, vor dem es kein Entrinnen gibt.

Auch auf die Gefahr allzu grober Vereinfachung hin liesse sich unsere Bildgeschichte vielleicht zu einer Sinngeschichte erweitern, wenn wir in dem Greifen als «Vergelter alles Irdischen» [47] den Endpunkt eines diachron sich wandelnden Schicksalsverständnis erkennen: Im Mittleren Reich, «der klassischen Epoche der Ma’at-Lehre», [48] kann der Ägypter noch selbstbestimmt durch sein Handeln gemäss der Ma’at sein Schicksal beeinflussen. Gegen Ende des Neuen Reiches und mit dem Aufkommen einer Tendenz zu ‹persönlicher Frömmigkeit› [49] begibt man sich «in die Hand Gottes» [50] und erduldet fatalistisch die göttlichen Entscheide. Die ägyptische Spätzeit scheint dann verstärkt durch eine Furcht vor der strafenden ‹Hand Gottes› geprägt, bis zu dem Punkte, an dem sich «ägyptische Nemesis-Gedanken» [51] mit dem decken, was gemeinhin als eine griechische Nemesis-Konzeption verstanden wird.

Schliesslich florierte dann der Glaube an die Schreckgestalt von (Petbe-)Nemesis besonders in römischer Zeit, [52] wo sich niemand vor ihr sicher fühlen konnte, nicht einmal der siegreiche römische Imperator: Deshalb musste im Triumphzug der ‹Staatssklave› (servus publicus), der hinter dem Triumphator im Streitwagen stand und diesem den Siegerkranz übers Haupt hielt (Abb. 10), dem Herrscher dabei gleichzeitig ins Ohr flüstern: ‹Blicke hinter dich und bedenke, dass du (nur) ein Mensch bist!› [53]

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