Galazzi, Kramer, Settis, Il Papiro di Artemidoro (Anm. 2), S. 609.
So auch die Auffassung von Galazzi, Kramer, Settis, Il Papiro di Artemidoro (Anm. 2), S. 610.
Erzähltraditionen der Vergeltung
Wie     auch  immer die  Szene des Piazza-Armerina-Mosaiks ‹korrekt›  aufzulösen     ist, dies  führt uns jedenfalls auch in der Betrachtung  des      Artemidorus-Greifen auf die semantische Interpretation der  Szene. Den      narrativen Zug der Greifenszene expressis verbis als   Bildgeschichte zu     untersuchen dürfte tatsächlich der wohl   fruchtbarste Zugang zu deren     Verständnis sein. Die Konfrontation von   Greif und Löwe/Raubkatze ist     zwar auch sonst zuweilen bildlich   belegt, [27] allein mit dem Verweis      darauf wird man der  Artemidorus-Darstellung aber nicht gerecht. Denn      diese «gruppo più  ampio e complesso» [28]  aller Tierdarstellungen auf  dem    Verso des  Artemidorus-Papyrus  weist aufgrund ihrer enormen     Expressivität und  der ungewöhnlichen  Konstellation dreier     interagierender Tiere auf  ein übergreifendes  Narrativ als sinngebende     Instanz hin. Ein  solches lässt sich vordergründig am ehesten in     einer Passage aus  dem zoologischen Traktat Über die Tiere (Peri  zoon)     von Timoteus von  Gaza entdecken, der über das Tigerweibchen   berichtet,    dass dieses  «gegen den Greifen einen Satz macht und ihn   ergreift,  wenn   er ihrem  Jungen nachstellt, und sie gibt nicht nach,   bis sie sich  mit   Mühe  zusammen mit ihm ins Meer wirft. Die Tigerin   tötet oft den  Greifen,    der ein Vogel ist, grösser (als sie) und  sogar  als der Löwe.»  [29]
Unsere     Darstellung liesse sich folglich  wie die  zeichnerische Umsetzung   von   Timotheus’ literarischem Bericht   auffassen. Dabei ist jedoch zu     beachten, dass die Zeichnung eine   Vorwegnahme der ― in dieser Form     singulären ― Beschreibung des   zoologisch versierten Autors ist, ja     diesem um beinahe ein halbes   Jahrtausend vorausgeht. Folgte man  dieser    Argumentationslinie, liesse   sich die Zeichnung relativ  zwanglos in  die   hellenistische Tradition   zoologischer Abhandlungen  einbetten,  die von   der historia animalium   des Aristoteles, über die  Tiergeschichten von   Aelian und dem   Physiologus, der Cynegetica  des  Oppian bis letztlich zu   Timotheus   reicht. Solcherlei  Tiergeschichten  berichten bevorzugt über     staunenswerte Anekdoten  und versahen diese  mit moralischen Pointen. Sie     interpretieren das  Gebaren im  Tierreich als Paradigma für menschliche      Verhaltensweisen. [30] Ein  Faktor kommt bei einer derart     hellenozentristischen Verortung   des  Motivs jedoch zu kurz: Die Rolle     Ägyptens als Motor von Sinn-   und  Bildproduktion. Dieser ‹Faktor Ägypten›     sollte bei der   Beurteilung  des Papyrus Artemidorus aber   berücksichtigt   werden. Der   Papyrus  entstand entweder in Alexandria,   dem eigentlichen     intellektuellen  Gravitationszentrum der   graeco-ägyptischen Welt, [31]     oder in der  Provinz von Antaiopolis, wo   der Papyrus den Indizien   zufolge   sein  antikes Leben beendet hat, d.h.   zu Pappmaché   verarbeitet und zum    Ausstopfen einer Mumie verwendet   wurde.





