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[26]

Homer, Odyssee, dt. v. Johann Heinrich Voss, München/Zürich 1961, Vierter Gesang, 414–424, S. 82.

[28]

Detienne, Vernant, Cunning (Anm. 24), S. 114.

 

Der Vergleich mit einem antiken Orakel bezieht sich auf die von Werner Heisenberg formulierte Unschärferelation und die von diesem, Paul Dirac und Schrödinger selbst formulierten Hypothesen über die quantenmechanische Dualität des Lichts als Partikel und als Welle. In seinem Aufsatz Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik beschreibt Schrödinger seine Sicht auf die Auswirkungen, die diese Hypothesen auf die Vorstellung von der wissenschaftlichen Erkenntnis hatten. Weder die Vorstellung des Lichts als Welle noch die als Teilchen erwies sich als hinreichend, um eine Reihe von Phänomenen zu erklären, die in Experimenten beobachtet werden können. Dies gelang erst mit der abwechselnden Anwendung beider Vorstellungen, die jedoch nicht in einem einheitlichen Modell vereinigt werden konnten. Schrödinger versuchte, eben diese Situation mit dem Proteusvergleich zu erfassen und lieferte damit  – durchaus unabsichtlich – einen Beleg dafür, dass die Vorstellung eines sich beständig anders zeigenden Modells  seine Aktualität seit Vasari weder verloren hat noch allein auf das Feld der künstlerisch-entwerfenden Modellierung reduziert werden kann.

Wie andere Orakel verfügt auch Proteus über die Fähigkeit, sich beständig zu verwandeln, um eine komplexe Situation zu beherrschen oder sich aus einer problematischen Lage zu befreien. Davon handelt etwa jenes Ereignis, das im vierten Gesang der Odyssee geschildert wird. Eidothea erklärt dort dem Menelaos, nach welchem Muster er vorzugehen habe, um dem Proteus einige Antworten zu entlocken: Zunächst sollten er und drei seiner Gefährten sich als Robben verkleiden, so heisst  es, und warten, bis Proteus schläft. Im rechten Augenblick sollten die Männer über ihn herfallen und ihn mit allen Kräften festhalten, während dieser «sich in alle Dinge verwandeln [wird], was auf der Erde lebt, in Wasser und loderndes Feuer.» [26] Nach einer Reihe von Verwandlungen kehrt der Proteus in seine ursprüngliche Gestalt zurück, woraufhin er aus dem Klammergriff befreit werden muss, damit er auf die ihm gestellten Fragen Auskünfte erteilt. Bemerkenswerterweise müssen sich Menelaos und seine Getreuen zunächst selbst verkleiden, um überhaupt die Möglichkeit zu bekommen, den «Gestaltwandler» [27] zu fixieren. Das Orakel muss sozusagen mit seinen eigenen Mitteln der Gestaltwandlung und der Täuschung in einem geeigneten Augenblick überrumpelt werden. «[I]t is only while he is sleeping, when his usual mistrust is inoperative and his vigilance lulled, that the god with the power of metamorphosis can be taken by surprise and overcome. He can only be caught when his mêtis has momentarily deserted him.» [28]

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