>>
[30]

Schrödinger, Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik [Anfang] (Anm. 25), S. 807.

[31]

Ibid., S. 810.

[32]

Max Imdahl, Ikonik, in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild, München 1995, S. 300–324, hier S. 318.

[33]

Schrödinger, Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik [Anfang] (Anm. 25), S. 810.

[34]

Ebd., S. 807.

 

Schrödinger dürfte die oben zitierte oder eine vergleichbare Passage der Odyssee vor dem geistigen Auge gehabt haben, als er das «klassische Modell» mit Proteus verglich. Aus dem Blickwinkel des quantenmechanischen «Denkschemas» [29] verwandelt sich der vormals «präzise Denkbehelf» [30] des klassischen Modells in eine Art bacchantisches Theater, das sich, wie Schrödinger mit bemerkenswerter Genauigkeit anzugeben vermag, jeweils höchstens zur Hälfte fassen lässt. Das klassische Modell befindet sich sozusagen in jener Phase, in der es von Menelaos umfasst wird und sich durch beständige Gestaltwechsel zu entziehen versucht. Hier kommt wieder der in der Pippo-Anekdote diskutierte Gedanke einer gesteigerten Unmittelbarkeit ins Spiel, die sich aus der Unbestimmtheit des Modells ergibt. So, wie das sich in den Augen der Betrachtenden beständig verwandelnde Modell den Bacchus unmittelbar zu verkörpert scheint, so scheint sich in der proteischen Vielgestaltigkeit des klassischen Modells die von Schrödinger angenommene Dualität des Lichts von Welle und Teilchen zu verkörpern. Das proteische Modell scheint auf diese Weise an  der Wechselhaftigkeit und Ungreifbarkeit der aus quantenmechanischer Sicht betrachteten Welt teilzuhaben und diese damit unmittelbarer im Modell fassbar zu machen, als dies irgendein «klares» [31] Bild vermögen würde. Zugleich verkörpert sich in der von Schrödinger geschilderten proteischen Verwandlung des klassischen Modells auch «die Erfahrung einer unüberwindbaren Verfügungsohnmacht», wie Max Imdahl in anderem Zusammenhang formuliert hat, [32] und damit die auf spezifische Weise unentschiedene Erkenntnissituation der Physiker in der ersten Hälfte 20. Jahrhunderts. Unmittelbarkeit und Unbestimmtheit stehen hier in einem doppelten gegenseitigen Wechselverhältnis, und zwar unabhängig davon, ob man ein komplexes dynamisches Geschehen mit einem produktiv unbestimmten Modell oder mit einem «klaren», [33] «präzisen Denkbehelf» [34] zu erfassen versucht.

Schluss

Die Bedeutung der Unbestimmtheit der Modelle wurde auch in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts an verschiedenen Stellen beschrieben. Georges Canguilhem zum Beispiel hält in seinem Aufsatz «The Role of Analogies and Models in Biological Discovery» von 1961 fest:

«[T]he use of an object as model  transforms it, inasmuch one takes explicit cognisanze of the analogies with the undetermined object for that it is a model. A model only becomes fertile by its own impoverishment. It must lose some of its own specific singularity to enter with the corresponding object into a new generalization.» [35]

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