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Dass die Vorlage keine Regel ist, bedeutet hier, dass sie zwar ein nachzeichnendes Tun auslöst und koordiniert, dieses aber so willkürlich erfolgt, dass man ihm keine Wiederholbarkeit oder Lehrbarkeit, wie im Falle der Schimpansen, zugestehen möchte. Wittgensteins Beispiel ist natürlich so gewählt ist, dass eine intuitiv nicht mehr annehmbare Beziehung der Nach- zur Vorzeichnung besteht. Es versucht darüber hinaus aber auch zu lokalisieren, wo genau die Regelwidrigkeit einsetzt. Die Vorlage ‹inspiriert› hier jemanden zur Produktion einer Zeichnung, und sie wird auch genauestens, nämlich mit technischer Präzision abgetastet. Die zusammenhängenden Schenkel des Zirkels gewährleisten tatsächlich eine stete, ‹ununterbrochene› Verbindung zwischen Vor- und Nachzeichnung, während ihre prinzipielle Beweglichkeit den Toleranzbereich für mögliche Variationen abgrenzt. Aber erst die je singuläre Handhabe des Zirkels, also die Performativität des Übertragens entscheidet über die Frage, wie stark der Vorgabe gefolgt und wie stark von ihr abgewichen wird. Zweitrangig sind dahingegen die äusseren Bedingungen des Nachzeichnens, die instrumentelle Ausstattung, die ein exaktes Abgreifen der Vorzeichnung garantieren könnte oder auch die mögliche Deckungsgleichheit der entstanden Zeichnungen, weil sich für sie ein Ungeschick in der Handhabung des Zirkels und sein streng reguliertes Öffnen und Schliessen gleichermassen als Ursachen konstruieren lassen.

Es sind also die konkreten Erfahrungen des Zeichnens selbst, und die Tatsache, dass es etwas sichtbar werden lässt, woran man sich im Moment des Nachzeichnens visuell orientieren kann, auf die es Wittgenstein ankommt. Unter dem Hinweis auf die Diversität zeichnerischer Handlungen steckt er ihr Terrain ab, indem er sie von psychologischen Ursachen und retrospektiven Interpretationen trennt, bzw. auf deren prinzipielle Austauschbarkeit hinweist. Darin hat zeichnerisches Regelfolgen seine genuin bildproduktive Dimension. Wo Wittgensteins Überlegungen zum Regelfolgen herkommen und worauf sie abzielen, lässt sich an seinen eigenen Nachzeichnungen zeigen.

III. Nachzeichnen (als Regelfolgen)

Als Beispiel wähle ich die Entstehungsgeschichte der Tangentenzeichnung, eines Motivs, das ausschnittweise die Berührung einer Tangente mit einer Kreisbahn zeigt und dabei die Frage diskutiert, ob es sich, nach Massgabe des Gesehenen, um eine punktuelle Berührung oder lineare Überschneidung handelt. [33] Es kann hier nicht nachgewiesen werden, ab wann sich Wittgenstein mit dem Problem der Berührung von Kreisbahn und Tangente befasste. [34] Tatsache ist jedoch, dass das Tangententhema schon in den «Gesprächen mit dem Wiener Kreis» diskutiert wird. In der posthumen Druckfassung findet sich auch eine einfache Illustration [Abb. 3].

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