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Nur kraft der Einsicht der Existenz der Wechselwinkel anhand der letzteren Zeichnung ist zu ersehen, dass in der Dreieckszeichnung die beiden inneren Winkel ABC und CAB außerhalb des Dreiecks in C wieder auftauchen bzw. noch einmal abgebildet werden, so dass dann tatsächlich plausibel wird, wieso die Winkelsumme gleich dem gestreckten Winkel oder zwei rechten Winkeln entspricht.

Wenn wir uns fragen, wieso die zeichnerische Konstruktion von Objekten zu Erkenntnissen führt, die der Begriff dieses Objektes nicht bereits enthält – jedenfalls sieht Kant dies so – dann wird klar: Der informative Überschuss des Diagramms gegenüber dem Begriff gründet darin, dass in seine Konstruktionsanweisung (die als Instruktionsvorschrift deckungsgleich ist mit dem Begriff) genau das nicht enthalten ist, was dann der Zeichnung entnommen werden kann. Dieser epistemische Mehrwert hat mit einer bildlichen Operation, mit einem Aspektwechsel zu tun. Der Geometer sieht in der einen Seite des Dreiecks AC (in der ersten Zeichnung = Euklids Theorem 32) eine die Parallelen schneidenden Gerade (in der zweiten Zeichnung = Euklids Theorem 29).

Ein Schenkel des Dreiecks im ‹Beweisbild› fungiert zugleich als eine Linie, die Parallelen schneidet, so dass dadurch Wechselwinkel entstehen und lokalisierbar sind, die zu identifizieren wiederum für die Beweiskraft unerlässlich sind. Das Element einer Konstruktionszeichnung fungiert in einer jeweils anderen Rolle und dieser Rollenwechsel bildet das anschauliche Fundament des Beweisganges, der – natürlich – nicht auf die Zeichnung reduzierbar ist, sondern auf der Interaktion von Diagramm und Text  und zwar in mehreren Schritten beruht.

<<  Ausgabe 05 | Seite 172  >>