Als Sternenkundige erkennen wir den Orion am Winterhimmel über Europa. ‹Erkennen›? Wir identifizieren in der unüberblickbaren und auch chaotischen Vielzahl funkelnder Punkte ein Muster. Doch das Muster, das wir dort oben finden, haben wir zuvor hier unten in mannigfachen Formen auf Buchseiten, Bildern, Beschreibungen vorgefunden. Ja, vorgefunden und zugleich wissen wir, dass dieses Muster eine von alters her geprägte artifizielle Konstellation ist. Sie besteht aus Punkten und Strichen, mit denen unglaublich weit entfernte Sterne (beim Orion z.B. Betelgeuse und Bellatrix) durch eine kurze Verbindungslinie auf einer Bildfläche in nachbarschaftliche Nähe gerückt werden.
Sternenkonstellationen sind keine Naturphänomene, sondern Bildwerke. Sie sind Projektionen aufgezeichneter Gestalten auf ein ‹Himmelsgewölbe›, das dadurch seine Tiefe verliert, um seine Krümmung und Räumlichkeit gebracht wird. Mit herrscherlicher Geste wird Ordnung im Chaos des Sternenmeers gestiftet, indem stabile Anordnungen hergestellt werden. Jedes Sternenbild, das eine Kultur als bedeutsame Konstellation auszeichnet, wird stets in einer Pluralität variabler Skizzen, diagrammatischer und mimetischer Zeichnungen und mythologisch-literarischer Beschreibungen überliefert und kanonisiert. Doch eine Struktur muss in der Vielzahl der unterschiedlichen Visualisierungen eines einzelnen Sternenbildes erkennbar sein. Was wir auf den Himmel projizieren, ist nicht ein einzelnes gezeichnetes Bild des Orion, sondern es ist das Orion-Schema, ein Muster, das in der Variabilität von Visualisierungen stets durchzuscheinen hat.
Und überdies: Es gibt gar kein singuläres Sternenbild; dieses existiert stets als Teil einer Gruppe. Sternenbilder können hinzugefügt werden und auch wieder verschwinden. Kaum eine Kultur aber kommt ohne eine solche Sortierung am Himmel aus; und das hat seinen guten Grund. Sternenbilder haben einen Sinn; das Wort ‹Sinn› übrigens – daran erinnert noch der Uhrzeigersinn – bedeutet etymologisch ‹Richtung›. Denn Sternenbilder dienen der Orientierung und Lokalisierung und das in einer interessanten Verbindung von Räumlichem und Zeitlichem: Anhand eines Sternbildes ist die räumliche Lage auf Erden zu orten, wenn zugleich kundig die zeitliche Bewegung des Bildes am Himmel in Rechnung gestellt wird. Über lange Epochen sind Sternenbilder – zusammengefasst in Sternenbild-Katalogen – unersetzliche Hilfsmittel der Navigation, die Richtungen gerade auf einem markierungslosen Ozean aufzeigen können und einzuhalten erlauben. Und für Laien, die sich am Himmel mit bloßem Auge auskennen, am Himmel also die Himmelskarte entdecken wollen, sind sie unentbehrliche Markierungspunkte.