Eine letzte Frage drängt sich auf: wenn beim geometrischen Konstruieren einzelne, reale Zeichnungen entstehen, wie gelingt es dem Mathematiker das Paradoxon zu ‹lösen›, dass ein für alle Dreiecke notwendig geltender Sachverhalt anhand einer einzelnen, empirischen Zeichnung dargelegt wird? Auch darauf hat Kant eine Antwort: die Wahrnehmung, von der im geometrischen Beweis Gebrauch gemacht wird, ist keine empirische Anschauung, sondern sie ist eine Anschauung a priori, eine Anschauung, die sich also immer, wenn ein Dreieck gezeichnet wird, einstellen muss. Dieses ‹müssen›, dieses ‹a priori› aber heißt nur soviel wie: Beim Zeichnen einer Figur folgen wir einer Regel, etwa, das ein Dreieck nicht etwa so «<<<» sondern mit drei Ecken in ganz bestimmter Anordnung gezeichnet wird. Nicht die drei Ecken, sondern die Art ihrer Verbindung ist entscheidend. Es kommt dann weder auf die Größe, noch auf die Exaktheit der Zeichnung an, es genügt, wenn die Anordnung des Dreiecks vom Viereck oder Fünfeck, von Kreis und Ellipse zu unterscheiden ist.
Das Dreieck gilt nicht in seiner aisthetischen Fülle als reale Zeichnung, sondern ‹zählt› bloß als Verkörperung eines Dreieck-Schemas, wodurch ein ‹entkörpertes Sehen› evoziert wird: Das Sehen des Dreiecks beinhaltet ein Absehen von allem, was nicht zum Dreieck-Schema gehört. Wohlgemerkt: das empirische Bild des Dreiecks ist nicht das Schema, sondern ‹nur› dessen Realisierung. Denn das Schema liegt allein in der Handlung, genauer: in der Ordnung einer unbegrenzt oft wiederholbaren Konstruktionshandlung. Im Lichte des Schematismus als Handlungsoption können wir im einzelnen, realen, empirischen Dreieck das ideale, virtuelle, nichtempirische Dreieck sehen. Anders ausgedrückt: Wir sehen in der einzelnen Anschauung einen allgemeinen Begriff.
Vervollständigen wir nun unsere ‹Grammatik der Diagrammatik› um zwei letzte Punkte.
10. Erzeugung von Wissen: Diagramme illustrieren nicht nur Sachverhalte, sie sind in ihrer epistemischen Rolle nicht auf Psychologie und Pädagogik zu beschränken, sondern erzeugen neues Wissen, welches in Entdeckungszusammenhängen aber auch in Beweisstrategien von Nutzen ist. Diese Produktion von Wissen qua Diagramm ist an drei Bedingungen gebunden: (i) Schematismus. Eine vorgegebene Konstruktionsregel kann als Ordnung von Handlungsschritten in der Visualisierung einer Konstruktion unbegrenzt oft wiederholt werden. (ii) Surplus: Die räumliche Konfiguration birgt Einsichten, die nicht schon in der Konstruktionsregel enthalten sind. Das Diagramm eines Objektes kann etwas zeigen, was der Begriff des Objektes nicht schon impliziert.